Für Nikita
Strafkolonie verhielt er sich ruhig und unauffällig, verstieß nie gegen
die Vollzugsregeln. Er saß die ganzen zehn Jahre friedlich ab.
Von einem alten Archivfoto blickte ein verschreckter, verwirrter Junge Hauptmann Resnikow an. Sliwko wirkte mit seinen einundzwanzig
wie höchstens siebzehn: dünner Hals, weicher, willenloser Mund. In seinem Gesicht lag etwas Klägliches, ja Krankhaftes. Solche
Menschen wurden in der Haft meistens gebrochen.
Doch manchmal war es auch umgekehrt, manchmal weckte die Haft in einem schwachen, stillen Jungen das zähe kleine Raubtier,
das dann zu einem gefährlichen großen Tier heranwuchs. Zum Beispiel zum Auftragsmörder.
Natürlich reichten Fotos nicht aus für eine solche Diagnose. Die Fotos, die kurz vor der Entlassung gemacht worden waren,
zeigten einen erschöpften, nicht sonderlich gesunden Mann. Das Lager hatte unauslöschliche Spuren hinterlassen. Ein Ausdruck
von ängstlichem Argwohn, scharfe frühe Falten, graue Ringe unter den Augen, fest zusammengepreßte Lippen. Doch in den fünf
Jahren in Freiheit konnte Sliwko sich total verändert haben, womöglich war er inzwischen wohlgenährt und gepflegt, hatte sich
neue Schneidezähne machen und einen Bart wachsen lassen.
Im Dorf Powarowka fand Hauptmann Leontjew unter der angegebenen Adresse – Krasnaja-Straße 7 – eine mit Brettern vernagelte,
halbverfallene Hütte und einen mitUnkraut und Brennesseln überwucherten Hof vor. Sliwkos Mutter war vor sieben Jahren gestorben; sie hatte die Freilassung ihres
Sohnes nicht mehr erlebt. Die Nachbarn erinnerten sich, daß Anton 1993 eines Tages aufgetaucht sei, rund zwei Monate in dem
Haus gewohnt habe und dann spurlos verschwunden sei.
»Vielleicht hat Soja ihn in Moskau untergebracht?« mutmaßte eine alte Angestellte in der Kreismeldestelle.
»Pah, die Soja braucht den so nötig wie ein Hund ein fünftes Bein!« Ein Opa in Wattejacke, der im Büro saß und rauchte, offenbar
ein Besucher der Angestellten, lachte skeptisch.
»Wieso denn nicht, er ist immerhin ihr Blutsverwandter. Und sie hat bestimmt einen Haufen Geld.«
»Leute, die Geld haben, die geben’s für sich aus, nicht für andere«, bemerkte der Opa zu Recht. »Die Soja, diese Zicke, die
war noch kein einziges Mal am Grab ihrer Schwester. Und da meinst du, die kümmert sich um ihren Neffen?«
»Als er noch klein war, hat sie das jedenfalls getan«, erinnerte sich die Frau. »Vielleicht tut sie’s ja auch jetzt. Sie hat
doch keine eigenen Kinder.«
»Soja Anatoljewna Astachowa ist Anton Sliwkos leibliche Tante«, erklärte der Revierbeamte, »sie lebt seit langem in Moskau.
Sie ist seine einzige nahe Verwandte.«
»Wir müssen uns treffen und reden. Sie müssen dringend nach Moskau kommen.«
»Was? Sind Sie verrückt? Ich kann im Moment nicht, ausgeschlossen. Wenn es so dringend ist, warum setzen Sie sich dann nicht
ins Flugzeug und kommen her?«
»Nach allem, was passiert ist, tue ich das lieber nicht.«
»So? Was ist denn passiert?«
»Das wissen Sie genau! Ein Unfall. Ein Brand. Und es gab eine Leiche. Dabei hatte ich Sie gewarnt.«
»Wovor? Was für eine Leiche? Wovon reden Sie? Ich glaube, Sie sollten sich mal ausruhen. Nehmen Sie Urlaub, fahren Sie nach
Spanien oder nach Griechenland.«
»Hören Sie auf. Spielen Sie vor mir nicht den Ahnungslosen. Sie sind bei mir gewesen.«
»Moment, jetzt erklären Sie mir erst mal, was los ist! Wer ist bei Ihnen gewesen?«
»Ein Milizhauptmann.«
»Name?«
»Andrej Michailowitsch Leontjew. Vom operativen Dienst des Südöstlichen Bezirks.«
»Aha, ich verstehe.«
»Gar nichts verstehen Sie. Überhaupt, das ist nichts fürs Telefon.«
»Dann müssen Sie herkommen. Eine andere Alternative gibt es nicht.«
»Es gibt in der Tat keine Alternative. Vor allem für Sie. Sie haben diese Suppe eingebrockt. Ich habe Sie gewarnt, aber Sie
wollten nicht auf mich hören. Übrigens, wissen Sie vielleicht, wo Anton ist?«
»Ich fürchte, Sie sind einfach mit den Nerven runter. Was für eine Suppe? Und woher soll ich wissen, wo Ihr Neffe ist?«
»Einer Ihrer Männer hat sich vor einem Monat mit ihm getroffen und dann noch ein paarmal. Anton hat gesagt, er würde bald
Geld haben, viel Geld, man habe ihm einen Job angeboten.«
»Aber überlegen Sie doch mal: Ihr Neffe ist krank. Er ist drogensüchtig, er hat zehn Jahre gesessen. Was für einen Job soll
ihm mein Mann angeboten haben? Und wie kommen Sie überhaupt darauf, daß
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