Fuer Wunder ist es nie zu spaet
Hat sie wirklich
einem pickeligen Teenager von ihrem nicht existenten Sexleben erzählt? Dieses
versteckte, schamvolle Geheimnis, das sie niemandem gegenüber erwähnt hat? Das
sie unter den Teppich kehren wollte? Und was hat er eigentlich gesagt? Dass sie
sich heute Abend selbst befriedigen und dabei an ihn denken soll! Maja lacht
laut vor sich hin. Alex grinst zurück. Ja, verdammt, was ist da nur passiert?
Wahrscheinlich hatten sie einen kollektiven Sonnenstich.
»Alex. Du weißt ja, was deine Aufgabe ist.«
Beide lachen laut los. Jens lächelt auch ein wenig, weiß aber nicht
richtig, warum.
»Du musst noch an deiner Geschmeidigkeit arbeiten, wollte ich sagen.
Was hast du denn gedacht?«
»Nein, nein, genau daran habe ich gedacht. Natürlich.«
»Okay. Damit ist es genug für heute! In einer knappen Stunde gibt es
Abendessen!«
Karin macht die Weinflasche auf. Schraubverschluss. Zuerst
überlegt sie, einen Schluck direkt aus der Flasche zu nehmen, doch dann reißt
sie sich zusammen und holt das schöne mundgeblasene Glas vom Nachttisch. Sie
schenkt sich einen anständigen Schwung von dem Weißwein ein und stellt auf
ihrem iPod ein Lied von Ane Brun ein. Dann holt sie den Nagellack aus ihrer
kleinen schwarzen, sauteuren Kosmetiktasche und begutachtet ihre Zehen. Doch,
die könnten eine Auffrischung gebrauchen, definitiv.
Karin schiebt den Stuhl ans offene Fenster, stellt die Füße auf die
Fensterbank und beginnt die Nägel zu lackieren. Von draußen hört sie, wie
Josefin den Pool säubert und sich derweil mit Pelle unterhält, der sich eine
Arbeitspause gönnt.
Mit sicherer Hand verteilt sie den Nagellack auf den Fußnägeln.
Sie haben nicht wieder angerufen. Sie haben aufgehört. Aufgegeben.
Seitdem hat sich in ihrem Innern alles ein wenig beruhigt. Aber die Angst
lauert noch ganz nah. Gestern Nacht konnte sie sich nicht hinlegen. Wenn sie
lag, dann war es, als würde ihre Atmung aussetzen. Die Luft kam nicht heraus.
Das war die Angst. Sie musste wieder hoch. Also wanderte sie im Zimmer herum,
saß eine Stunde in dem roten Samtsessel und massierte mit den Händen nervös
ihren Hals, während sie die großen Bilder an den Wänden betrachtete. Zwei
riesenhafte Ölgemälde, die Porträts von zwei Frauen, die sie selbstbewusst
ansahen. Feste Blicke. Vielleicht Mutter und Tochter? Schmuck, Hochsteckfrisuren,
ein kleiner Hund mit vorstehenden Augen auf dem Arm, im Hintergrund des Bildes
von der älteren Frau war das Schloss zu sehen, in dem Karin sich gerade
aufhielt.
Aber sie konnte keine Ruhe finden. Einen Moment lang hatte sie
erwogen, selbst anzurufen und zu fragen, ob er inzwischen gestorben war. Ob er
weg ist. Aber was, wenn nicht? Wenn er immer noch atmet und nach ihr ruft.
Kaaarin . . . Kaarin . . .
Karin versucht, ihn wegzuzappen. Sie versucht, die Fernbedienung des
Gehirns zu drücken und zu einem lustigeren Programm zu wechseln. Bloß keine
gefühlsduseligen Dokumentationen mehr auf dem Vierten. Her mit Paulchen Panther!
Mit Clowns und Tamtam. Her mit irgendeinem spannenden Kulturprogramm über die
Kreativität in Tijuana. Den Sender wechseln, einfach nur drücken. Sie hat es
zur Expertin darin gebracht, das Programm zu wechseln. Tagsüber geht das sehr
gut, aber nachts ist es fast unmöglich. Da hat die Fernbedienung keinen Saft
mehr, hört nicht auf ihre Kommandos, sondern schaltet immer den üblichen Mist
ein.
So, die Fußnägel sind fertig! Dunkel Mahagonifarben. Die dürfen
jetzt in der Fensternische trocknen. Karin angelt das Handy aus ihrer
Handtasche, die auf dem Fußboden steht. Keine Nachrichten, keine neuen SMS .
Nichts. Sie versucht, ihre Tochter anzurufen. Niemand geht ran. Sie versucht,
ihren Exmann anzurufen. Er geht ran.
»Ah, hallo, was gibt’s? Ist irgendwas mit Simone?«
»Nein.«
»Warum rufst du dann an?«
Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich so verdammt einsam bin. Weil ein
paar Kilometer entfernt von mir der Tod liegt und meinen Namen schreit, und ich
kann nicht hinfahren. Schaffe es einfach nicht. Weil ich viel zu allein viel zu
große Schlucke vom Wein nehme. Weil ich mich nicht scheiden lassen wollte. Weil
ich es grässlich finde, dass du in deinem Leben einfach mit deiner neuen
schönen Schauspielerin weitergegangen bist. Weil ich manchmal nicht atmen kann.
Weil ich einen perfekten Körper habe, den niemand anfasst. Eine kaputte Seele
in dem perfekten Körper. Eine Seele, die keiner heilen kann oder will. Eine
Seele, die man nicht zeigen kann, weil sie so
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