Fürchte deinen Nächsten!
mich wohl oder übel daran gewöhnen müssen.«
»Das überlasse ich Ihnen, Marcella. Aber mich interessiert noch etwas anderes.«
»Bitte.«
»Was ist dieser Judas für ein Mensch? Wo kommt er her? Welchen Hintergrund hat er?«
Das dezent geschminkte Gesicht der Frau verschloß sich. »Einen schlimmen«, flüsterte sie, »einen sehr schlimmen sogar.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich es genau nehme, hat man ihm keine Chance gelassen, anders zu werden. Er war sechzehn Jahre alt, als es passierte. Da kam er nach Hause und fand seine Eltern tot. Jemand hatte die beiden auf einen breiten Küchentisch gelegt und umgebracht. Der Mörder nahm zwei Macheten«, flüsterte sie. »Mehr mcichte ich dazu nicht sagen. Judas hat dann seine Eltern entdeckt. Sie können sich vorstellen, was das für ihn bedeutet hat.«
»Ja, da kann ich mir vorstellen. Ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, das wäre eine Sache für später.
Ich möchte nur fragen, wer die Eltern des Jungen damals ermordet hat.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Wie? Soll das heißen, daß Sie es nicht wissen? Daß man die Mörder nicht gefunden hat?«
»Sie sagen es.«
Es hatte keinen Sinn, sie nach den Gründen zu fragen. Da mußte ich mich schon an die Kollegen wenden, die den Fall damals bearbeitet hatten. Das war eine Aufgabe für später, aber ich kam einfach nicht von dem Gedanken los, daß die Ermordung der Eltern etwas mit der weiteren Entwicklung des jungen Mannes zu tun hatte. Der Doppelmord hatte praktisch die Basis gelegt.
»Möchten Sie Delanys weiteren Lebensweg in Kürze hören?«
»Ja, bitte.«
»Es gab noch einen Onkel, nicht mehr. Der wollte ihn nicht. Judas kam in ein Heim, in dem er nicht lange blieb. Man wollte ihn nicht. Er war schwer erziehbar, und so zeichnete sich sein Weg bereits ab. Von Heim zu Heim, nie richtig betreut. Es gab immer Probleme. Er riß aus und tauchte schließlich unter. Bis er dann sein erstes Opfer fand. Es lag auf dem Altar. Schrecklich zugerichtet. Es ist Ihren Kollegen gelungen, Judas Delany zu stellen. Er war wirr. Er berichtete von anderen Welten und Dämonen. Er prophezeite noch vielen Menschen den Tod und wurde schließlich zu uns eingewiesen, wo ich mich mit ihm beschäftigt habe.«
»Sind Sie vorangekommen?«
Marcella schüttelte den Kopf. »Nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich versuchte alles, aber die Mauer zwischen uns blieb. Auch hatte ich immer den Eindruck, daß er mich nicht richtig ernst nahm. Sein ganzes Gehabe deutete darauf hin, daß er sich mir gegenüber erhaben fühlte. Nach dem Motto: laß sie doch reden, ich mache sowieso, was ich will. Was er leider auch getan hat.«
»Darf ich Ihren Worten entnehmen, daß Sie Judas auch für die drei anderen Morde verantwortlich machen?«
Marcella Ash verdrehte die Augen. »Himmel, was soll ich dazu nur sagen? Ich will es nicht glauben, ich wehre mich dagegen, weil ich unseren Sicherheitsstandard kenne, aber ich ziehe es in Betracht, ohne es logisch nachvollziehen zu können.«
»Mit der Logik kommt man in meinem Beruf oft nicht weiter«, erklärte ich ihr. »Wenn alles stimmt, was wir annehmen, muß er außergewöhnlich sein. Oder hat einen Helfer, der dafür sorgt, daß er diese Taten begehen konnte.«
»Wer kann das sein?«
Ich schaute sie nur an.
Marcella schnappte nach Luft. »Verstehe«, flüsterte sie dann. »Sie denken an den Satan.«
»Ich schließe es nicht aus.«
Sie blickte an mir vorüber. Die Hände bewegten sich unruhig. Um die Mundwinkel zuckte es. Es war eine harte Nuß, die ich ihr da zum Kauen gegeben hatte. Bei der Psychologin brach gewissermaßen ein Weltbild zusammen. »Wer ist der Teufel?« flüsterte sie, um sich gleich selbst die Antwort zu geben. »Ich weiß es nicht. Hat er eine Gestalt? Kann man ihn sehen, anfassen?«
»Er kann eine Gestalt haben.«
»Das wissen Sie?«
»Ja.«
»Aber er ist nicht auf eine fixiert?«
»Richtig.«
»Dann könnte das wahr werden, was wir von unseren Vorfahren im Mittelalter übernommen haben, die ja dem Teufel, ebenso wie dem lieben Gott, ein Bild gaben, um beide Seiten konkretisieren und verstehen zu können.«
»Auch das stimmt.«
Sie atmete zischend aus. »Ein Teufel mit Hörnern und einem Klumpfuß? Gibt es so etwas?«
»Es kann Vorkommen«, sagte ich. »Muß aber nicht. Der Teufel hat sich auch mir gegenüber so gezeigt und anders. Es kommt mir vor, als wollte er den Menschen damit einen Gefallen tun, um sie zu bestätigen. Darüber lange zu
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