Fürchte deinen Nächsten!
zog und ihr sehr gut stand. Ihr Gesicht war gut geschnitten. Sie hatte helle Augen, eine kleine, sehr gerade Nase und ein energisch vorspringendes Kinn.
»Wenn Sie etwas trinken möchten, Mr. Sinclair, sagen Sie es bitte. Ich habe mir vorhin einen doppelten Whisky gegönnt. Den habe ich einfach gebraucht.«
Ich lächelte sie an und fragte: »Könnten Sie denn noch einen vertragen?«
»Immer noch. Nach dem, was ich gehört habe.«
»Dann nehme ich auch einen, denn ich habe einiges gesehen«, erklärte ich ihr.
Sie holte Gläser und schenkte ein. Ich schaute ihr zu. Dr. Ashs Figur konnte sich sehen lassen. Nicht zu dünn, sondern gut proportioniert, denn unter dem Rockstoff zeichneten sich die beiden Halbkugeln eines strammen Hinterteils ab. Sie kehrte mit den beiden Gläsern zurück. Ich stand noch und nahm erst Platz, nachdem auch sie sich gesetzt hatte.
Sie drehte das Glas zwischen den Händen. »Ich bin sonst nicht auf den Mund gefallen, Mr. Sinclair, aber mir fällt im Moment nicht ein, auf was wir trinken könnten.«
»Sagen wir einfach auf den Erfolg.«
Sie wollte etwas erwidern, verschluckte die Worte und stimmte mir durch ihr Nicken zu.
Der Whisky war weich. Er tat mir gut. Ich trank ihn und schloß die Augen. Dabei versuchte ich, das schreckliche Bild der toten Frau auf dem Altar zu vergessen, doch das war mir nicht möglich. Gerade jetzt, als ich mit geschlossenen Augen dasaß, drang es wieder hervor, und ich atmete schnell ein.
»Denken Sie an die Tote, Mr. Sinclair?«
»Ja, daran denke ich. Ich habe Sie auf dem Altar liegen sehen, und es ist noch nicht lange her.«
»Ich verstehe.«
Es entstand eine Pause. Jeder suchte nach dem passenden Wort, um den Faden wieder aufnehmen zu können, und Marcella Ash machte den Anfang.
»Ich habe mit Alex Rankin telefoniert, John – ich darf doch John sagen, oder?«
»Natürlich, Marcella.«
Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Also, wie ich schon erwähnte, ich habe mit Alex gesprochen, den ich für einen sehr fähigen Kollegen halte. Auch er steht wie ich in einer Sackgasse, und wir beide hoffen jetzt, daß Sie uns daraus hervorhelfen können. Das wollte ich zunächst einmal sagen.«
»Sie kennen mich und meine Arbeit?«
»Nein, John, ich habe nur davon gehört, auch von Alex Rankin. Nur zähle ich zu den Menschen, die sich gern ein eigenes Bild von einer Person machen. Das bringt allein schon der Beruf mit sich.«
»Und welchen Eindruck haben Sie von mir?«
»Einen positiven, John.«
»Danke.«
»Obwohl ich Ihre Arbeit nicht richtig zu würdigen weiß, weil ich wenig davon verstehe. Bevor wir uns um Judas kümmern, würde ich gern mehr von Ihnen erfahren. Sehen Sie es nicht als übertriebene Neugierde an, es gehört einfach zu mir.«
»Das ist klar. Ich hätte mich Ihnen auch ohne Ihre Bitte erklärt.« In den folgenden Minuten gab ich ihr einen Überblick über meine Arbeit und mit welchen Fällen ich mich beschäftigte. Ich erklärte ihr auch, daß mein Partner Suko und ich recht erfolgreich in unserem Job waren, auch wenn uns der ganz große Wurf noch nicht gelungen war.
Marcella Ash konnte zuhören. Das bewies sie, denn sie unterbrach mich mit keiner Frage. Als ich dann diesen Überblick beendet hatte, nickte sie mir zu.
»Mehr sagen Sie nicht, Marcella?«
Sie schaute auf die beiden silbernen Ringe an ihren Fingern. Der eine steckte auf der rechten, der andere auf der linken Hand. »Was soll ich dazu sagen? Was wollen Sie hören?«
»Die Wahrheit bitte.«
»Die ist nicht einfach auszudrücken. Auch wenn ich Psychologin bin, so komme ich mit Ihren Ausführungen nicht klar. Ich habe mich bisher auf zwei Welten konzentriert. Auf die normale und auch sichtbare und zum anderen auf die nicht sichtbare Seelenwelt des Menschen. Sie zu erforschen ist nicht einfach, und es wird auch wohl nie gelingen. Davon bin ich überzeugt. Nun sitzen Sie vor mir und verändern dieses Bild. Es kommt noch eine dritte Welt hinzu. Die dämonische, wenn ich das mal so vereinfachend sagen darf, und auch eine Welt, die sich in unsere, sichtbare hineindrängt und von der wir Menschen nur wenig wissen.«
»Das stimmt.«
»Aber Sie kennen sich aus. Sie lösen Fälle, über die andere nur den Kopf schütteln würden.«
Sie blieb ernst. Ihr fiel es nicht ein, über mich zu lächeln, und das fand ich gut. »Sie haben recht, Marcella. Die meisten Menschen würden mit dem, was ich tue, nichts anfangen können. Sie glauben, daß diese Dinge nur in Büchern
Weitere Kostenlose Bücher