Fürchte deinen Nächsten!
wobei die Gitter vor den letzteren nur bei genauem Hinsehen zu entdecken waren. Wer in diese Klinik kam, der verließ sie nur in sehr seltenen Fällen. Hier waren die kaum heil- und therapierbaren Menschen untergebracht, bei denen das Leben nicht so verlaufen war wie eine Geschichte aus dem Hollywood-Film.
Ich fuhr langsam. Bald hörte ich das Knirschen des Kieses unter meinen Reifen, und ich sah, daß sich der Weg gabelte. Einer, der breitere, führte auf den normalen Eingang zu, und der schmalere wand sich nach links. Ihn nahm ich.
Rasenflächen, die auch nicht mehr so grün aussahen wie im Sommer oder Frühjahr. Das Gras war leicht gebräunt. Darauf klebten hin und wieder bunte Blätter. Ich sah einen Gärtner, der damit beschäftigt war, sie zusammenzukehren, um sie danach in einen Wagen zu laden, den er hinter sich herzog.
Es sah alles friedlich aus. Der Parkplatz vor dem Hauptgebäude war halbleer. Regen war zwar nicht angesagt worden, aber die Wolken lagen ziemlich tief und wirkten wie eine graue Decke, hinter der eine winterliche Sonne als schwacher Fleck zu sehen war.
Als der Gärtner mich entdeckte, pausierte er, stützte sich auf seinen Besen und folgte der Fahrt meines Autos.
Neben einem dunkelgrünen Aston Martin hielt ich an und stieg aus. Mein Blick fiel auf die graue Fassade und natürlich auch auf die Fenster, die hier nicht vergittert waren. Das Haus hier kam mir vor wie eine alte Schule, in der die Kinder noch Platz auf den breiten Gängen und in großzügigen Klassenzimmern hatten.
Ich mußte über eine Treppe gehen, um die zweiflügelige Eingangstür zu erreichen.
Nein, in eine Schule trat ich nicht. Es fehlten die Stimmen der Kinder. Ihr Lachen und auch ihr Schreien. Die kleine Halle erinnerte mich schon mehr an eine Kirche, was die Stille anbetraf. Ich sah eine Treppe, die sich nach rechts und links verzweigte. Licht brannte nicht. Ich mußte mit der Helligkeit auskommen, die durch die Fenster sickerte. Zwei helle Sitzbänke erregten meine Aufmerksamkeit. Sie waren frisch gestrichen und rochen noch nach Farbe.
Ich wollte mich nicht setzen. Für mich war das große Schild interessanter, das an der Wand befestigt war. Darauf waren die Namen der Ärzte aufgeführt, die hier ihre Büros hatten.
Dr. Marcella Ashs Büro lag in der ersten Etage. Es trug die Nummer vierzehn. Na, da war ich schon mal weiter. Ich nahm die linke der beiden Treppen.
Auch in der ersten Etage mußte ich nach links. Ein Gang wie in einem Kloster. Erhellt von Kugelleuchten, die mir vorkamen wie frisch aus dem All gelandete Monde. Sie waren so angebracht, daß ihr Licht auch auf die Türen fiel, und der Name Dr. Marcella Ash war gut zu lesen.
Ein Vorzimmer hatte die Dame nicht, und ich war gespannt, wer mich da empfangen würde. Wegen der Dicke der Türen mußte ich schon ziemlich stark klopfen, wartete die Aufforderung zum Eintreten nicht erst ab, sondern schob die Tür nach innen.
Der erste Blick: Ein graublauer Teppichboden, zwei Fenster, die Ausblick zum Park boten, Möbel in der Farbe des Bodens, ein Schreibtisch mit PC, eine leichte Sitzgruppe, Aktenschränke, und natürlich die Person, die hier residierte.
Sie hatte sich erhoben, als ich die Tür hinter mir schloß und kam mit forschen Schritten auf mich zu.
»Ich bin Marcella Ash«, stellte sie sich mit einer warmen und angenehmen Stimme vor. Sie reichte mir die Hand. Es war ein kräftiger Händedruck, der einiges über die Frau aussagte. Sie war eine Person, die genau wußte, wo es langging. Keine verquere, in sich gekehrte Psychologin, die auf ihre Patienten nur mit einer Flüsterstimme einsprach und ihnen mehr Furcht einjagte, als sie Hilfe zu geben imstande war.
»John Sinclair«, sagte ich.
»Freut mich.« Ihr Lächeln war echt. »Der Geisterjäger also.«
»Nun ja, nehmen Sie das nicht so genau. Es ist eben ein Spitzname. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Bitte, dann nehmen wir doch Platz.«
Mrs. Ash ging vor zur Sitzgruppe und wies auf einen Sessel. Sie trug ein lindgrünes Winterkostüm aus einem recht dicken Stoff. Der Rock endete knapp in Kniehöhe. Unter der Jacke sah ich den Stoff eines weißen Shirts. Um den Farbkontrast nicht zu kraß werden zu lassen, hing um Marcellas Hals eine Kette aus dicken grünen Perlen, die farblich genau zum Kostüm paßte.
Sie war eine hübsche Frau in den Dreißigern. Das voluminöse, aber trotzdem recht kurz geschnittene Haar besaß eine aschblonde Färbung, die sich als Streifen durch die naturblonde Farbe
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