Fürchte deinen Nächsten!
normalerweise so reagieren wie ich, aber das ist nicht der Fall. Sie kommen mir so unnatürlich ruhig vor.«
»Das täuscht.«
»Dann haben Sie sich gut in der Gewalt.«
»Das kann ich nicht abstreiten«, erwiderte ich lächelnd. »Es ist in meinem Beruf wichtig.«
»Stimmt, und ich möchte Sie erst gar nicht danach fragen, was Sie alles erlebt haben. Ich dachte immer, daß mich nichts mehr überraschen könnte. Man lernt eben nie aus. Ich kenne Menschen, die durch eine Hölle gegangen sind, doch dieser junge Mann hat die Hölle in sich. Bei ihm gibt es keine Liebe mehr. Die hat man ihm genommen. Vielleicht hat er sie auch nie besessen, das weiß man so alles nicht. Jedenfalls habe ich wieder etwas dazugelernt, ohne es begreifen zu können. Ich finde mich damit ab. Ich will Sie auch nicht mit Fragen nach Ihrem Kreuz löchern. Es ist für mich ebenfalls ein Rätsel.« Sie schüttelte den Kopf und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Wissen Sie, John, ich bin nie ein besonders gläubiger Mensch gewesen und habe stets versucht, rational zu denken, auch als Psychologin. Was ich jetzt erlebt habe, das hat mich schon nachdenklich gemacht.«
»Inwiefern?«
»Ganz einfach«, murmelte sie vor sich hin. »Ich glaube von nun an an die Polarisierung. Daß es zwei Gegenkräfte gibt. Auf der einen Seite das Gute, auf der anderen das Böse. Und das Gute ist durch Ihr Kreuz in die Welt gebracht worden, John.«
»Nein, nein, das ist schon etwas übertrieben. Es sind schon andere Dinge, die das Gute in die Welt gebracht haben, da brauchen Sie keine Angst zu haben. Aber mein Kreuz ist ein Teil davon. Es ist sehr alt. Da rechnet man schon in Jahrtausenden, und es ist für mich ein Schutz, denn ich bin sein Erbe in einer längeren Kette, die sich über Jahrhunderte hinwegzieht,«
»Wenn Sie es sagen, kann ich nicht widersprechen. Aber ich bin froh, daß Sie bei mir sind. Ich habe diesen Killer nie in dieser Art erlebt. Ich sah ihn stets als Kranken.«
»Und wie sehen Sie ihn jetzt?« wollte ich wissen.
»Tja, das ist schwer zu sagen. Äußerlich sieht er aus wie ein Mensch, doch ich denke mehr, daß ich ihn als ein menschliches Höllengeschöpf bezeichnen kann. So widersinnig es sich auch anhört oder so paradox es ist. Mir fällt kein anderer Vergleich ein.«
»Dann bleiben Sie dabei?«
»Ein schwacher Trost«, erklärte Marcella und verzog säuerlich das Gesicht.
»Warum?«
Sie strich ihr Haar zurück, das vorn an den Spitzen schweißfeucht war. »Weil ich seine Worte nicht vergessen habe, John. Er hat weitere Morde angekündigt. Nicht nur wir stehen auf seiner Liste. Um uns beide habe ich keine Angst. Ich frage mich viel mehr, wer derjenige sein wird, den er sich vor uns ausgesucht hat. Wen will er töten?«
»Keine Ahnung.«
»Dann können wir die Person auch nicht schützen.« Sie ging einen Schritt von mir weg und fragte: »Oder glauben Sie an einen Bluff, John? Wollte er uns nur Angst einjagen?«
»Nein, das glaube ich nicht. Er weiß genau, was er tut. Er hat Pläne, und er läßt sich von uns nicht stören, darauf können Sie Gift nehmen. Der zieht alles durch, bis zum letzten.«
Marcella Ash sah aus wie jemand, der anfangen will zu schreien. »Aber er sitzt in der Zelle. Hier hinter der verschlossenen Tür. Diese Zelle ist zu seiner zweiten Heimat geworden, aus der er nicht entwischen kann.
Normalerweise nicht.« Sie bewegte beide Hände beim Sprechen. »Aber es ist passiert. Die schrecklichen Morde haben wir uns doch nicht eingebildet, und wir haben auch erlebt, wozu er fähig ist. Er geht an Wänden hoch und läuft an der Decke entlang, ohne daß er nach unten fällt. So etwas will mir nicht in den Kopf. Das ist verrückt. Da komme ich nicht mehr mit!« rief sie.
Marcellas Verhalten bewies mir, daß sie die Vorgänge noch nicht verkraftet hatte. Bei ihr war das Weltbild tatsächlich zusammengebrochen. Aber ich konnte ihr nicht helfen. Sie mußte die Tatsachen so akzeptieren wie sie sich darstellten, auch wenn sie an die Grenzen des menschlichen Verstandes rüttelten.
Bei ihrer Frage schaute sie mir ins Gesicht. »Wer ist der nächste auf seiner Liste? Wer kann es sein?«
»Wollen wir raten, Marcella?«
»Nein, wir müssen es wissen. Und wir müssen akzeptieren, daß er es auch schafft.« Ihre Stimme hatte wieder den energischen Tonfall zurückbekommen, den ich kannte, und sie ging jetzt mit zwei schnellen Schritten auf die Tür zu, um die Klappe vom Guckloch zu entfernen. Sie wollte es wissen. Es war
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