Fürchte deinen Nächsten!
er sich aufgelöst hat. Vor meinen Augen. Nach einem wilden Tanz verwandelte er sich in einen Schatten, und für Schatten gibt es keine Mauern, die sie aufhalten können.«
Mit kleinen Schritten ging die Frau tiefer in die Zelle hinein. »Ich würde es nicht glauben«, sagte sie, »wenn Sie es mir nicht gesagt hätten.«
»Ich habe Sie nicht angelogen, Marcella.«
»Das weiß ich ja…« Sie zuckte mit den Schultern. »Und was machen wir jetzt, John?« Sie lachte und schüttelte dabei den Kopf. »Himmel, ich frage schon wie ein kleines Kind, aber ich sehe auch, daß Sie ratlos sind. Damit haben Sie nicht gerechnet – oder?«
»Das habe ich nicht.«
»Dann haben Sie auch keine Erklärung dafür – oder?«
»Im Moment nicht.«
Marcella Ash stand vor mir und ballte die Hände zu Fäusten. »Gibt es denn dafür eine Erklärung, John?
Kann man so etwas überhaupt erklären? Sie sind doch der Fachmann, und Sie müßten es zumindest in Ansätzen wissen, oder nicht?«
»Nein, ich habe keine Ahnung.«
»Aber Vermutungen doch!«
Mit einem seufzenden Laut drehte ich mich zu ihr um. »Was wollen Sie hören, Marcella? Soll ich sagen, daß es Menschen gibt, die durch Wände und Decken gehen können?«
»Nein, das ist zu billig.«
»Eben.«
»Es kommt eben auf das Wie an«, sagte sie. »Wir haben vor kurzem noch vom Teufel gesprochen. Wir haben darüber diskutiert, und jetzt frage ich Sie, ob der Teufel seine Hand mit im Spiel gehabt hat?«
»Ich kann es nicht beweisen.«
»Aber es könnte möglich sein.«
»Durchaus.«
»Dann wäre seine Macht so groß, daß die Gesetze der Natur für ihn keine Gültigkeit mehr besitzen.«
»So könnte man es auch ausdrücken.«
Marcella wollte es nicht glauben. Sie kam vor allem mit meinem Verhalten nicht zurecht. »John, Sie sagen das so einfach. Erschreckt Sie das denn nicht?«
»Ja, schon.«
»Zuwenig…«
»Warum?«
»Sie sind…«, Marcella schüttelte den Kopf. »Sie sind für mich zu wenig gefühlsbeladen. Nicht emotional engagiert. Ich könnte platzen, ich könnte schreien und kann mich nur mit äußerster Mühe beherrschen. Sie aber kommen mir recht gleichgültig vor.«
»Was ein Irrtum ist.«
»Das hoffe ich.« Sie ging auf und ab. Dabei hielt sie stumme Zwiesprache mit sich selbst und sagte dann: »Seine Worte haben wir beide wohl nicht vergessen.
Ich rechne damit, daß er erst in die Zelle hier zurückkehrt, wenn er seine Aufgabe erledigt hat. Das heißt, wenn wir tot sind.«
»Danach sieht es aus«, gab ich zu. »Aber es geht hier nicht nur um uns beide, sondern auch um die unbekannte Person oder unbekannten Personen, die auf seiner Liste stehen. Er hat uns seine Taten ja angekündigt, da haben wir uns nicht verhört. Ich gehe davon aus, daß vor uns jemand anders an der Reihe ist.«
»Ja«, sagte Marcella Ash leise. »Daran habe ich auch gedacht. Aber ich weiß nicht, wer es ist oder wer es sein könnte. Haben Sie vielleicht eine Idee?«
»Nein.« Ich sah, wie Marcella den Kopf senkte und sie Stirn gegen die Wand preßte. Sie kannte die Bilder der vier Toten. Wahrscheinlich rechnete sie damit, daß Delany sie und mich ebenfalls auf diese Art und Weise umbringen wollte.
Ich mußte sie einfach trösten und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Zunächst geht es um Sie, meine Liebe.«
»Nicht auch um Sie?«
»Ja, schon, aber ich weiß mich zu wehren. Wir wollen nicht lange um das Problem herumreden. Sie befinden sich in Lebensgefahr. Das steht fest. Also müssen wir etwas dagegen unternehmen.«
»Da bin ich leider die falsche Person, die Sie ansprechen, obwohl es um mich geht.«
»Das weiß ich, aber ich möchte, daß Sie von nun an nicht mehr ohne Schutz sind.«
»Sie wollen immer an meiner Seite bleiben?«
»Nein, nicht ich.«
Diese Antwort gefiel ihr nicht, und sie erschrak sogar. Mit einer heftigen Drehung wandte sie sich von mir ab. »Wieso nicht Sie, John? Wer dann? Sind Sie es leid mit mir?«
»Unsinn, auf keinen Fall. Ein Freund und Kollege wird die Aufgabe übernehmen.«
Sie zog eine Schnute, denn überzeugt hatte ich sie nicht. »Er ist weder besser noch schlechter als ich, Marcella. Sie können sich auf Suko verlassen.«
»Suko?« wiederholte sie.
»Ja, ein Chinese und Inspektor bei Scotland Yard. Er ist mein Partner.«
Sie räusperte sich. »Weiß er… ich meine, weiß er denn über diesen Fall hier Bescheid?«
»Er ist informiert, keine Sorge. Ich rufe ihn an und werde ihn herbitten. Alles andere können wir dann noch
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