Fürchte deinen Nächsten!
nach unten. Die Hände waren gespreizt, und damit schlug er immer wieder gegen den harten Betonboden.
Der Anblick des Kreuzes war für ihn eine Folter. Er hatte ihn fertiggemacht. Und es mußte schon ein besonderes Kreuz sein, um ihn so reagieren zu lassen. Ein normales, auch Kreuze, die in den Kirchen hingen, hatten ihn nicht beeindrucken können, sonst hätte er seine Taten nicht in den Gotteshäusern begehen können.
Hinter mir hörte ich die leisen schleifenden Schritte. Marcella Ash kam zu mir und blieb neben mir stehen. Sie wußte nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Auf Delany oder auf das Kreuz. Beide waren für sie ein Rätsel.
Delany sah das Kreuz nicht mehr. Er hatte sich zur Seite gedrückt und seine Augen geschlossen. Mir drehte er sein Profil zu, doch von seinem Gesicht konnte ich nicht viel sehen, weil die Haare wie ein dunkler Vorhang davor hingen.
Er stöhnte in Intervallen. Aus dem offenen Mund tropfte Speichel. Daß mein Kreuz ihn derart verändert hatte, dafür gab es nur einen Grund. In seinem Innern mußte etwas Schreckliches vorhanden sein, das nun voll zum Ausbruch gekommen war. Lange genug hatte er es kontrollieren können, das war nun vorbei.
»John, wie ist das möglich?« flüsterte Marcella. »So etwas habe ich noch nie erlebt…«
»Ich erkläre es Ihnen später. Das ist hier noch nicht vorbei.«
»Wie meinen Sie das? Wollen Sie ihn therapieren? Was ich hier sehe, das ist für mich Exorzismus. Aber ich weiß auch, daß sich die offizielle Kirche davon distanziert hat, obwohl er immer wieder angewendet wird, wie jetzt von Ihnen.«
»Nein, Marcella, es ist kein Exorzismus. Vielleicht im weitesten Sinne des Begriffs, aber das ist auch alles. Ich kann Ihnen nur sagen, daß es einzig und allein an meinem Kreuz liegt. Sie hören keine Beschwörungsformeln von mir.«
»Ja, das nehme ich hin.« Sie konnte es noch immer nicht fassen und erschien mir aufgelöst. »Wie geht es denn jetzt weiter? Oder ist es schon beendet?«
»Das denke ich nicht.«
»Wollen Sie das Böse bei ihm austreiben?« Marcella blieb bei ihrer Interpretation des Exorzismus, doch darauf ging ich nicht ein, sondern näherte mich dem am Boden liegenden Mann.
Ich bückte mich, und Delany schien die Bewegung geahnt zu haben, denn sein Kopf ruckte zu mir herum. Durch die Bewegung wurde auch das Haar in die Höhe geschleudert, und so konnte er zur Seite schauen und mich ansehen.
Aber er sah nur das Kreuz!
Und wieder riß er den Mund auf. Ich rechnete abermals mit dem fürchterlichen Schrei, doch dann passierte etwas, das mich völlig überraschte.
Sein Körper zuckte hoch. Ich ging davon aus, daß er aufspringen und in Richtung Tür fliehen wollte, was aber auch nichts brachte, denn sie mußte erst durch den Schlüssel geöffnet werden.
Nein, das trat nicht ein. Delany kam zwar hoch, aber er rannte nicht auf die Tür zu, sondern direkt auf die vor ihm liegende Wand. Er würde sich dagegen werfen, sich verletzten und…
Nein, es kam anders.
Bevor er die Wand erreichte, stieß er sich ab. Für einen Moment schwebte er über dem Boden, und seine Beine bewegten sich in der Luft, dann bekamen die Füße Kontakt mit der Wand.
»Das gibt es doch nicht!« rief Marcella Ash, für die wahrscheinlich ein Weltbild zusammenbrach.
Und doch gab es das!
Judas Delany lief die Wand so locker und leicht in die Höhe wie wir, wenn wir über den normalen Boden liefen…
***
Das erstaunte auch mich. Dabei wurde ich an einen alten Hollywood-Schinken mit Fred Astaire in der Hauptrolle erinnert. Auch der begnadete Tänzer und Schauspieler war in diesem Film an der Wand hochgelaufen und sogar über die Decke gehuscht. Damals eine Sensation der Film-Technik, und jetzt erlebten Marcella und ich es in natura.
Delany lief hoch. Er kippte nicht einmal zurück. Er bewegte seine Beine rasend schnell und stieß bei jedem Schritt einen heftigen Schrei aus. Er erreichte die Decke, und wir rechneten beide mit einem Fall nach unten, aber den Gefallen tat er uns nicht. Judas lief weiter an der Decke entlang und dabei auf die gegenüberliegende Wand zu.
Um ihn zu sehen, mußten wir uns drehen.
Ja, er rannte sie hinab, wie er die andere vorhin in die Höhe gelaufen war.
Keiner von uns wollte ihn stoppen. Ich aber spürte, wie sich mein Kreuz jetzt ziemlich stark erwärmt hatte. Was Delany tat, war nicht zu erklären. Es widersprach den Gesetzen der Physik, die er im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf gestellt hatte.
Als wäre es für ihn
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