Fürchte deinen Nächsten!
ihm. Vor seinen Augen wuchs eine dunkle Wand hoch. Die Bäume des Parks standen so dicht, daß er keine Zwischenräume ausmachen konnte. Und die einsam stehenden Laternen wirkten so weit entfernt.
Alex fröstelte.
Völlig normal bei diesem Wetter, aber das wollte er nicht akzeptieren. Dieses Frösteln hatte wenig mit der Witterung zu tun. Es kam mehr von innen. Aus dem Gefühl heraus. Es floß in die Höhe. Es war ein leichtes Kribbeln, sowohl innen als auch außen.
So wenig sich der Körper entspannte, so wenig hatte sich auch sein Gesicht entspannt. Er wußte genau, daß sich irgend etwas verändert hatte, ln der Dunkelheit konnte sich viel aufbauen. Da hatte das Böse seinen Platz.
»Mach dich nicht selbst verrückt!« flüsterte er sich zu. »Es ist nichts. Du bist allein, und alles ist wie immer, verdammt noch mal. Bleib cool.« Dann griff er in die Tasche und holte die Zigarettenschachtel hervor. Er zupfte ein Stäbchen heraus, steckte es zwischen seine Lippen und drehte sich so, daß der Wind die kleine Flamme des Feuerzeugs nicht erfassen konnte.
Der Glimmstengel brannte. Alex saugte den ersten Rauch ein und stieß ihn durch die Nase wieder aus. Das Aufflackern der Flamme hatte ihn für einen Moment geblendet. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich wieder an die dunkle Umgebung gewöhnt hatte – und plötzlich zusammenzuckte, obwohl es keinen äußerlich sichtbaren Grund gab.
Es hing einzig und allein mit dem Gefühl zusammen. Das hatte sich verändert.
Rankin blieb bewegungslos auf dem feuchten Platz stehen. Er starrte nach vorn.
Er sah nichts. Oder das gleiche wie zuvor. Trotzdem ging er davon aus, daß sich etwas verändert hatte, und das nicht weit von ihm entfernt. Möglicherweise dort, wo die Bäume einen dichten Wall bildeten, die sich als Versteck eigneten.
Im Park ertönte eine Autohupe. Danach ein Ruf. Was die Männerstimme sagte, konnte er nicht verstehen, aber es hatte nichts mit seiner Lage zu tun.
Plötzlich schmeckte ihm die Zigarette nicht mehr. Er ließ sie fallen und hörte, wie sie mit einem Zischen verglühte. Der Verstand sagte ihm, daß es Unsinn war, wie er sich verhielt, auf der anderen Seite war er ein Mann, der auch auf seine innere Stimme hörte, und sie signalisierte Gefahr.
Aber sie war nicht zu sehen!
Er drehte sich.
Das Wasser floß wie immer. Kein Monstrum tauchte aus den Wellen auf. Kein Riesenmaul schnappte nach ihm, kein Ungeheuer wollte ihn in die Fluten zerren.
Alles war und blieb normal.
Der Profiler glaubte nicht mehr daran. Er suchte seine Umgebung ab, ohne etwas entdecken zu können. Er hatte vorgehabt, den Spaziergang auf eine Stunde auszudehnen. Diesen Plan ließ er jetzt fallen. Es war ihm plötzlich wichtiger, wieder den Wagen zu erreichen.
Zwei Schritte weit kam er.
Da hörte er das Kichern!
Rankin blieb stehen wie vom berühmten Blitz getroffen. Er fühlte sich starr, obgleich er innerlich zitterte. Er hatte auch nicht gehört, aus welcher Richtung das Kichern ertönt war. Es war keine Täuschung gewesen, kein anderer Klang der Wellen, nein, da kannte er sich schon aus.
Jemand war da, und es war kein Monster, sondern ein Mensch!
Das Mark in seinen Knochen schien sich zu verändern und zu Eis zu werden. Im Nacken setzte sich das kalte Gefühl fest und fraß sich noch weiter den Rücken hinab. Er spürte die Gefahr, und er wußte auch, daß es keine normale war. Er war nicht durch Zufall auf irgendwelche Typen gestoßen, die hier auf einsame Spaziergänger warteten, um sie ausrauben zu können.
Rankin sah nichts. Er drehte sich. Zuerst nach links, dann wollte er die Drehung fortführen, als er mitten in der Bewegung innehielt.
Vor ihm stand jemand.
Ein Schatten. Zwar starr, aber mit einem normalen Umriß. Kein Baumstamm, auch kein Pflock. Ein Mensch.
Rankin hielt den Atem an. Je mehr Zeit verstrich, um so deutlicher gelang es ihm, diesen Schatten zu erkennen. Das war nicht nur einfach ein Mensch, das war jemand, den er niemals hier im Leben vermutet hätte.
Es war Judas Delany!
***
Die Erkenntnis riß ihn nicht von den Beinen, obwohl sie ihn hart getroffen hatte. Er kannte den Killer. Er hatte oft genug mit ihm zu tun gehabt. Er hatte ihn gesehen. Er hatte ihm gegenübergesessen und ihn befragt. Allein, aber auch mit der Kollegin Marcella Ash zusammen. Er wußte, daß Judas zumindest einen Mord auf dem Gewissen hatte. Dafür war er verurteilt und in die Klinik gesteckt worden.
Dann waren die drei weiteren Bluttaten kurz hintereinander
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