Fürchte deinen Nächsten!
Hand vor ihren Mund pressen, ließ es dann jedoch bleiben. »Klar, Sie haben recht, John. Das ist es. Das müßte so sein. Himmel, wenn das wahr wäre, dann…«
»Es ist eine Möglichkeit.«
»Kennen Sie die Anschrift?«
»Nein.«
»Aber ich.«
»Dann sagen Sie…«
»Nicht hier, John. Ich weiß sie nicht auswendig. Wir müssen in mein Büro. Kommen Sie.«
Jetzt hatten wir es beide eilig. Marcella schloß noch die Tür. Als wir uns dem Gitter am Ende des Gangs näherten, stand der Wächter dahinter auf. Er war ziemlich bleich und sprach Marcella an. »Ich wollte mich ja nicht einmischen, Dr. Ash, aber normal war es nicht, was da abgelaufen ist.«
Sie schaute ihn scharf an. »Was haben Sie gesehen?«
»O je.« Der Pfleger strich an seiner Wange entlang. »Wenn Sie mich so fragen, eigentlich nichts.«
»Die Kamera war also ausgeschaltet?«
Er nickte zweimal. »Wie es den Vorschriften entspricht. Nur wenn Sie auf eine Überwachung bestanden hätten, dann hätte ich sie auch eingeschaltet.«
»Schon gut, Max. Geben Sie weiter acht.«
»Was ist denn mit der Zelle von Delany?«
»Lassen Sie die Kamera weiterhin ausgeschaltet. Alles andere würde doch nichts bringen.«
»Wie Sie meinen, Doktor.«
Marcella und ich beeilten uns jetzt, wieder in das Büro zurückzu kehren. Sie setzte sich sofort hinter den Schreibtisch, um ihre Unterlagen zu sichten. Zuvor gab sie mir noch die Nummer des Büros. Ich wählte von Marcellas Telefon aus und hoffte, daß ich Alex Rankin noch erreichte. Sehr spät wurde abgehoben, aber es meldete sich keine Männer-, sondern eine Frauenstimme.
»Mein Name ist John Sinclair. Ich hätte gern Alex Rankin gesprochen. Ich bin ein Kollege.«
»Oh, das tut mir aber leid. Alex ist vor einer Viertelstunde gegangen. Er hat für heute Feierabend gemacht.«
Ich biß mir auf die Unterlippe. »Wissen Sie denn, wo er hingegangen sein könnte?«
»Nach Hause, nehme ich an. Er klagte über Kopfschmerzen und sprach auch von frischer Luft. Möchten Sie seine Privatnummer haben, Mr. Sinclair?«
»Das wäre nett.«
Ich bekam sie und schrieb mit. Marcella schaute mir dabei zu. Die Adresse hatte sie ebenfalls aufgeschrieben. Bevor ich den Zettel einsteckte, rief ich bei Rankin an.
Es meldete sich niemand.
»Er kann noch auf dem Weg nach Hause sein«, erklärte die Psychologin, die mein Gespräch mitgehört hatte.
»Wahrscheinlich.«
»Und Sie wollen jetzt hin, nicht wahr?«
»Ja, das will und muß ich. Ich werde auch nicht auf meinen Freund warten. Wenn er hier bei Ihnen eintrifft, klären Sie ihn über alles auf. Und drücken Sie uns die Daumen.«
»Nicht nur die, John, auch die Zehen…«
***
Als Alex Rankin zu seinem Wagen ging, zog er den Mantel nicht aus. Er stieg ein und schloß die Tür.
Rankin war froh, der bedrückenden Enge des Büros entkommen zu sein. Er hatte sich zuletzt eingeschlossen gefühlt, fast wie in einem Gefängnis. Da gab es Tage, an denen er das Büro haßte. Es war wirklich eine Kammer, aus der nichts herauskam. Alles blieb in ihrem Innern gefangen. All die Sorgen und Probleme und damit auch die menschlichen Abgründe, in die er als Profiler immer wieder hineinschaute oder hineinschauen mußte. Rankin hatte sich den Beruf selbst ausgesucht und sich auch auf dieses Gebiet spezialisiert. Aber er hatte nicht gedacht, daß es ihm an manchen Tagen derart an die Nieren gehen würde. Es war nicht unbedingt erstrebenswert, ein Profiler zu sein, auch wenn die Leute seines Berufs in den TV- Serien immer so tough dargestellt wurden und jeden Fall lösten.
Profiler zu sein und Täterprofile zu erstellen, das bedeutete vor allen Dingen viel Feinarbeit. Einfühlungsvermögen, geistiges Joggen. Logisch denken und Verbindungen ziehen. Eine Arbeit, die auch nicht in Stunden gemessen werden konnte. Oft genug war Rankins Büro auch zu seinem Schlafplatz geworden. Eine Ehe war daran vor einem Jahr zerbrochen, und Alex hatte seiner Frau nicht einmal einen Vorwurf machen können.
An diesem Tag hatte er am späten Nachmittag Schluß gemacht. Er konnte nicht mehr. Das Bild auf dem Altar wollte ihm nicht aus dem Kopf. Zu schrecklich war es gewesen.
Eine vierte Leiche!
Er schluckte und startete den Vauxhall. Es war ihm egal, sich in den Londoner Verkehr zu schieben. Irgendwie würde er schon durchkommen und seinen Lieblingsplatz am Ufer der Themse erreichen. Er lag etwas außerhalb der großen Touristenzonen, wo im Sommer die Ausflugsboote hielten und die Menschen über das Wasser
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