Fürchte deinen Nächsten!
zu verschwinden. Dann war die Sache erledigt.
Mit langen Schritten setzte er sich in Bewegung.
Natürlich drehten sich seine Gedanken um den unheimlichen Besucher. Er wußte auch nicht, ob er endgültig verschwunden war oder sich nur als Beobachter versteckt hielt.
Sehr bald hatte er den Rand des Parks erreicht und tauchte zwischen den Bäumen unter. Er nahm auch nicht die normalen Wege. Querfeldein war er schneller bei seinem Fahrzeug.
Auf dem Boden lagen die abgefallenen Blätter und bildeten eine dicke, weiche Schicht. Er hörte sich gehen, er sah über sich das kahle Geäst mit seinen Lücken dazwischen, die manchmal ungewöhnliche Formen aufwiesen. Astgabeln wie Mäuler. Aste und Zweige wie zugreifende Arme, die mitten in der Bewegung erstarrt waren. Diese Vergleiche waren ihm sonst nie in den Sinn gekommen. Daß er seine Umgebung jetzt so sah, hing einzig und allein mit seinem unheimlichen Besucher zusammen, über den er noch immer rätselte und sich mittlerweile fragte, ob dieser verdammte Delany noch ein Mensch war.
Ausgesehen hatte er wie ein Mensch. Aber wer schaffte es schon, sich in einen Schatten zu verwandeln und sich dabei sogar aufzulösen? Da wurde der gesamte Atom-Molekülverband des Körpers zerrissen, aufgelöst, weggeweht, um sich an einer ganz anderen Stelle wieder zusammenzusetzen. Nur so konnten Mauern überwunden werden. Wurde Materie von Materie besiegt, weil sie umgewandelt werden konnte, ohne daß irgendwelche Katalysatoren mithalfen. Rankin schüttelte den Kopf. Nein, das war alles Unsinn. Er kam damit nicht klar. Sein Gesicht hatte sich verzogen. Hätte er einen Physiker gefragt, wäre er ausgelacht worden.
Und doch hatte er das Phänomen mit eigenen Augen gesehen, und es mußte auch eine Erklärung geben, verdammt.
Wenn schon keine naturwissenschaftliche, die außerhalb der menschlichen Logik lag. Und damit beschäftigte sich Kollege Sinclair, der Bescheid wissen mußte.
Alex ärgerte sich jetzt, daß er die Handynummer des Geisterjägers nicht wußte. Er nahm sich strikt vor, Sinclair zu erreichen, bevor er den Wagen startete. Beim Yard konnte man ihm sicherlich weiterhelfen. Es hatte keinen Sinn, schon jetzt anzurufen, denn nach den nächsten beiden Schritten hatte er den Schutz der Bäume verlassen und bewegte sich schon auf dem Gebiet des Parkplatzes.
Soviel er erkennen konnte, waren keine weiteren Fahrzeuge mehr hinzugekommen. Gegenüber, nahe der öffentlichen Toilette, brannte eine einsame Laterne. Ihr heller Kopf hing wie eine bleichgelbe Halloween-Maske, die man vergessen hatte, in der Luft.
Der Profiler atmete heftiger. Nicht etwa, weil er schnell gelaufen war, nein, bei ihm lagen die Dinge anders. Es war die innere Anspannung, die ihn so reagieren ließ. Er wußte selbst, daß er sich noch nicht in Sicherheit befand. Der andere konnte jeden Moment wieder wie aus dem Nichts erscheinen.
Vorsichtig und sich immer wieder umschauend näherte sich Rankin seinem Auto. Niemand zeigte sich. Die Finsternis lag wie grauschwarze Watte über dem Parkplatz.
Als er neben seinem Vauxhall stehenblieb, fühlte er sich etwas besser. Der Wagen gab ihm eine gewisse Sicherheit. Wenn er hinter dem Lenkrad saß, konnte er starten und wegfahren. Dann würde ihn der andere nicht einholen.
Rankin drehte sich nicht mehr um. Den Schlüssel hielt er bereits in der Hand, ln der Dunkelheit fand er das Schloß nicht sofort. Er rutschte einmal ab. Erst beim zweiten Versuch klappte es.
Alex wollte die Tür aufziehen.
Da hörte er die Stimme hinter seinem Rücken. »Fürchte deinen Nächsten!«
Rankin schrie. Es war der Schock, der dafür sorgte. Diesmal lähmte er ihn nicht.
Er fuhr herum.
Judas war da.
Und diesmal bewaffnet!
***
ln seiner rechten Hand hielt er den Gegenstand, der aussah wie ein Kurzschwert, ein riesiges Messer oder wie eine Machete. Jedenfalls war es eine Mordwaffe, und der Profiler ging davon aus, daß sie auch eingesetzt wurde.
Delany lächelte. Er hielt die Schlagwaffe in beiden Händen. Den Oberkörper hatte er leicht nach vorn gereckt, so sah er aus wie auf dem Sprung. Die Klinge zeigte mit ihrer Schmalseite auf das Opfer. Hinter ihr sah der Mann das Gesicht des Killers mit den weichen mädchenhaften Zügen, die so gar nicht dem Klischee eines Mörders entsprachen. Ein Irrtum, wie Rankin sehr gut wußte. Gerade in seinem Job als Profiler durfte er sich vom Äußeren eines Menschen nicht täuschen lassen. Er hatte Kindermörder erlebt, die mehr einem Engel geglichen
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