Fürchte deinen Nächsten!
geschehen. Von einem perfekten Nachahmer durchgeführt, wie viele Menschen – Rankin eingeschlossen – vermutet hatten.
Ein Irrtum.
Es gab keinen Nachahmer.
Es war Delany selbst.
Er stand vor ihm.
Aber Rankin war nicht in der Lage, Luft zu holen. Er konnte seinen Blick einfach nicht von dieser Gestalt lösen. Sie war so furchtbar, obwohl sie normal aussah. Eingepackt in einen dunklen Mantel, aus dem nur das Gesicht hervorschaute, das ihm so bleich vorkam. Die schwarzen Haare glichen einem matt glänzenden Gefieder. Um den weichen Mund herum erschien ein Zucken, weil Judas lächelte.
Er kam einen Schritt näher.
Rankin blieb stehen.
Er dachte daran, daß er keine Waffe bei sich trug. Er haßte Waffen. Seine Waffen waren der Intellekt und das Einfühlungsvermögen. Für ihn waren die kleinen, grauen Zellen wichtiger als eine Pistole oder ein Messer. Bisher jedenfalls. Nun wünschte er sich eine Schußwaffe, denn er wußte, daß Judas gekommen war, um abzurechnen.
Aber wie? Wie war es ihm möglich gewesen, hier zu erscheinen? Durch dicke Zellenmauern zu schleichen oder Gittertüren zu öffnen? Das konnte nicht sein.
Delany ging nicht weiter. Er streckte nur seinen Zeigefinger vor und sagte: »Fürchte deinen Nächsten!«
Rankin kannte sich aus. Zumindest in der Theorie. Er wußte genau, daß es gut war, wenn man versuchte, mit einem Gegner zu sprechen. So konnte man ihn hinhalten und möglicherweise durch gute Überzeugungsarbeit von seinem Vorhaben abbringen.
Alex kam nicht mehr dazu, auch nur ein Wort zu sprechen, denn es geschah etwas, das er nicht begriff. Da brach plötzlich eine Welt für ihn zusammen.
Alles fing damit an, daß sich Delany auf der Stelle drehte, als wollte er ihm mit einem Tanz imponieren. Er ging auch nicht zur Seite, nur die Drehungen nahmen an Geschwindigkeit zu. Seine Gestalt verwischte und verwandelte sich dabei in eine Spirale, die sich auch gut und gern in den Boden hineindrücken konnte.
Ein kalter Windzug wehte an seinem Gesicht vorbei, während sich Judas immer schneller um die eigene Achse bewegte und sich der Körper wie in einer Staubfahne auflöste.
Dann war er weg!
Es dauerte seine Zeit, bis Rankin überhaupt begriff, was da vor seinen Augen geschehen war. Nicht nur, daß ein Mensch so plötzlich erschienen war, nein, er war auch ebenso plötzlich verschwunden. Er hatte sich durch diese rasenden Drehungen vor den Augen eines Zeugen kurzerhand aufgelöst.
Alex schnappte nach Luft. Man hatte ihm einmal gesagt, daß er einem verrückten Beruf nachging, und genau das kam ihm jetzt in den Sinn. Es war verrückt gewesen, was er da erlebt hatte. Einfach unglaublich und nicht zu fassen.
Und doch entsprach es der Wahrheit. Der Profiler bezweifelte, daß er einem Irrtum oder einer Halluzination zum Opfer gefallen war. Diese Person vor ihm war echt gewesen. So verdammt echt wie das Rauschen der Themse hinter ihm.
Rankin spürte den Schwindel. Zugleich auch die Weichheit in seinen Beinen. Er mußte sich schon breitbeinig hinstellen, um nicht zu Boden zu fallen.
In den letzten Sekunden war sein gesamtes Weltbild zusammengebrochen und das neue entstanden. Was er da gesehen hatte, war so gut wie nicht zu erklären. Er suchte nach Begriffen und kam auf das Wort übersinnlich, aber das traf es auch nicht. Hier waren normale Gesetze auf den Kopf gestellt worden, und plötzlich konnte sich Rankin vorstellen, daß die vier Menschen von ein und derselben Person umgebracht worden waren. Da lag der Kollege Sinclair mit seiner Meinung gar nicht mal verkehrt.
Rankin hatte sich wieder fangen können und schaute sich um. Er wollte sehen, ob noch eine Spur vorhanden war. Nein, es gab nichts mehr. Der Uferstreifen war leer. Nur der kalte winterliche Wind wehte über die flache Fläche hinweg.
Also nichts.
Alex schüttelte den Kopf. Erst jetzt kam ihm zu Bewußtsein, welch großes Glück er gehabt hatte. Das Ding hätte auch anders laufen können. Da er gewohnt war, analytisch zu denken, fragte er sich, warum Judas Delany erschienen und ihn gewarnt hatte. Er hätte es auch einfacher haben können.
Nein, darüber wollte Alex nicht weiter grübeln. Er haßte es, sich mit dem eigenen Tod zu beschäftigen. Die Hände hatte er in seine Manteltaschen gesteckt und zu Fäusten geballt. Ihm war auch nicht mehr kalt, sondern richtig warm. Auf seiner Stirn klebten kleine Schweißperlen.
Bis zum Auto war es nicht weit. Er brauchte nur schräg den Uferstreifen hochzugehen und zwischen den Bäumen
Weitere Kostenlose Bücher