Fürchte deinen Nächsten!
Er steckte dahinter, und er befand sich bereits auf seiner verdammten Rachetour.
Warum das Blut? Was hatte er damit vor? Wollte er mir damit ein Zeichen geben? Ein schnelles, heftiges Atmen störte mich. Über meinem Kopf hatte ich es gehört, und es wurde von der Flüsterstimme abgelöst, die aus dem Nichts wehte.
»Fürchte deinen Nächsten!«
Genau das war seine Stimme. Das war er. Das war der verfluchte Killer und Meuchelmörder. Seine Stimme hätte ich unter Hunderten identifizieren können. Sie war so prägnant, und ich würde sie auch niemals mehr vergessen.
Deckung gab es hier nicht. Ich wollte trotzdem mehr Sicherheit haben und lief auf die Wand zu, gegen die ich mich mit dem Rücken drückte. Ob es etwas brachte, war fraglich. Den Kopf hatte ich etwas nach hinten gelegt, um in die Höhe schauen zu können. Die Stimme hatte mich von oben her erreicht. Ein Flüstern wie von einem Windstoß getragen, aber so sehr ich auch schaute, ich sah keinen Gegner.
Judas Delany schwebte in einem Zwischenreich. Er war vorhanden, aber er war nicht sichtbar.
Trotzdem hielt ich nach ihm Ausschau. Ein huschender Schatten in der Luft, ein leichtes Zittern, das Vibrieren winziger Partikel, all das konnte ein Hinweis sein. Leider war nichts zu sehen. Mich störte das Licht. Ich hätte es gern heller gehabt, aber einen Schalter sah ich nicht in der Nähe.
Dann klang die Stimme wieder auf, und sie sprach mit dem gleichen Tonfall. »Fürchte deinen Nächsten, Sinclair. Fürchte den Verräter und fürchte den Erlöser…«
»Ach ja? Bist du so stark…?«
Aus dem Unsichtbaren hörte ich das Lachen.
»Gut, Judas Delany. Wenn du tatsächlich so stark bist, dann zeige dich. Jetzt und hier. Wir tragen es aus. Wir beide. Nimm mich als ersten, bevor du dich um Alex Rankin kümmerst.«
»Du Idiot!«
Normalerweise wären diese Worte nicht schlimm gewesen. In diesem Zusammenhang schon, denn ich ahnte, daß ich mich auf dem falschen Dampfer befand. Er brauchte nicht mehr auf Alex Rankin zu warten, weil er ihn schon getroffen hatte.
Ich schaute auf die Tür.
Dort hatte sich das Blut in mehrere dünne Streifen aufgelöst und wirkte wie ein Spinnennetz. Die Enden hatten schon fast den Boden erreicht, wo sie bald kleine Lachen bilden würden.
Meine Stimme klang rauh, aber ich konnte es verdammt noch mal nicht verhindern. »Was ist mit Alex?«
Er lachte mich aus. »Es gibt ihn nicht mehr. Ich habe ihn getroffen. Er ging spazieren. Er wollte die Einsamkeit am Ufer des Flusses genießen. Ich habe ihm erklärt, daß er mich, den Erlöser und Verräter, fürchten soll. Ich weiß nicht, ob er es auch getan hat. So lange wollte ich nicht warten.«
»Du hast ihn umgebracht?«
»Ja.«
»Und wie?«
»So wie die anderen auch. Nicht nur einmal. Ich habe es gründlich getan.«
In mir vereiste etwas. Wie abgerufen erschien wieder das schreckliche Bild der toten Frau vor meinen Augen. Ich sah noch Alex Rankin in der Kirche stehen und erinnerte mich daran, wie entsetzt er ebenfalls gewesen war. Wenig später auch froh, weil er den Fall zum Großteil hatte abgeben können.
Und jetzt war ihm das gleiche Schicksal widerfahren. Ich wollte nicht an das Fürchterliche denken. Das Blut war aus meinem Gesicht gewichen, ich war bleich geworden. »Wo hast du es getan? Wo genau?« fragte ich leise.
»Im Park. Auf einem Parkplatz. Battersea Park. Da kannst du seine Rest aufsammeln…«
»Er hat dir nichts getan, Judas!«
»Doch… doch… er wollte mich jagen. Wie du, Sinclair. Wie auch diese Psychologin. Aber ich bin trotz allem stärker. Ich besitze Kräfte, wie sie kein anderer hat.«
»Ja, das weiß ich.«
»Dann wirst du…«
»Nein, ich werde nicht, Judas. Ich möchte, daß du mir beweist, wie stark deine Kräfte sind. Zeige dich! Stell dich zum Kampf. Auge in Auge. Deine Mordwaffe kannst du behalten…«
Sein Lachen unterbrach mich. »Keine Sorge, das wird noch alles kommen, wie du es dir vorgestellt hast. Nur den Zeitpunkt, Sinclair, den bestimme ich. Er kann in einer Minute eintreten oder in drei Stunden. Vielleicht auch erst morgen. Das ist noch alles unklar für mich. Darüber werde ich nachdenken, John Sinclair…«
Etwas klatschte von oben her in mein Gesicht. Es hatte mich an der rechten Stirnseite getroffen. Zuerst dachte ich an einen Wassertropfen, doch dafür war der Tropfen einfach zu warm. Außerdem regnete es bestimmt nicht durch das Dach in das Treppenhaus hinein.
Ich schaute hoch.
Uber mir drehte sich ein Propeller.
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