Fürchte deinen Nächsten!
Türhälften zur Seite, so daß ich die Kabine betreten konnte. Ich drückte den entsprechenden Knopf, es ging abwärts, und ich war allein zwischen den Wänden.
In den meisten Kabinen schauen die Menschen zu Boden. Eine Geste der Verlegenheit. Ich blieb unruhig und ließ meine Blicke hin und her schweifen. Es gab weder etwas zu sehen noch zu hören. Ich blieb allein, bis der Lift unten stoppte.
Vor mir lag die buntere, die lebendigere Welt, in die ich eintrat. Erwachsene und Kinder, die durch die Passage gingen. Viele waren nur Schauleute, die sich für die ausgestellten Waren in den Schaufenstern interessierten.
Weihnachtsbäume mit künstlichem Schnee. Lächelnde Nikoläuse, deren rote Wangen aufgeplustert waren. Sie hatten lange schlohweiße Bärte, während oftmals über ihnen die ätherisch oder kitschig wirkenden Engel schwebten, wobei viele von ihnen Preisschilder der angebotenen Waren in den Händen hielten.
Mir stand der Sinn nicht nach Weihnachten. Ich wollte einen Killer fassen, der keine Rücksicht auf Menschen nahm und sie schlimmer behandelte als Vieh.
Bei diesem Gedanken wurde mir beinahe übel. Mit langen Schritten verließ ich die Kaufzone, um auf den dunkleren Parkplatz zu gehen, wo auch mein Wagen stand.
Es war recht kalt geworden. Frostwetter. Auf den Pfützen bildeten sich bereits dünne Eisschichten. Die Wolkendecke war aufgerissen. Uber der Stadt lag zumeist klarer Himmel, auf dem sich auch die Sterne abzeichneten und ein Mond, der allmählich zunahm. Ich hatte mich an meinen Rover gelehnt, um zu telefonieren, als sich das Handy meldete. Es war Sir James, und der war mir mit seinem Anruf zuvorgekommen. Seiner Stimme entnahm ich, daß er schlechte Nachrichten für mich hatte, und ich sagte: »Sir, ich denke, daß ich es schon weiß.«
»Rankins Tod?«
»Ja.«
»Jogger fanden ihn. Es muß furchtbar für die Leute gewesen sein. Rankin starb so wie die anderen vier.«
»Genau das hat mir der Killer berichtet.«
Sir James war platt. Er wollte es kaum glauben, und ich setzte ihn mit kurzen Sätzen in Kenntnis.
Nach einem langen Schnaufen sagte er: »Dann ist es möglich, daß sich der Killer als nächstes Marcella Ash vornehmen wird und damit auch Suko.«
»Der ist gewarnt, Sir.« Überzeugend hatte meine Antwort nicht geklungen.
»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«
»Er wollte den Beschützer spielen und zu Marcella nach Hause fahren.«
»Sie haben die Nummer?«
»Ja, sie hat mir ihre Karte gegeben.«
»Dann fahren Sie um Himmels willen hin, John.«
»Das hatte ich vor, Sir. Nur wollte ich mein Kommen ankündigen und auch herausfinden, ob sie bereits dort sind.«
»Tun Sie das.«
Ich telefonierte, nachdem ich die Nummer von der Visitenkarte abgelesen hatte. Der Ruf ging durch, aber niemand hob ab.
So etwas konnte passieren, das war nicht weiter tragisch. Im Normalfall nicht. Doch was war hier schon normal? Ich merkte, wie die Furcht wie mit Schlangenhänden in mir hochkroch…
Marcella Ashs Befürchtungen bestätigten sich nicht. Sinclairs Kollege Suko war ein Mann, mit dem sie sich auf Anhieb verstand. Kein verbohrter Polizist, auch keiner, der in seiner eigenen Mentalität erstickt war und alles Europäische ablehnte. Er war weltoffen und zeigte zugleich Verständnis für die Probleme anderer, ohne übertrieben und weinerlich dabei zu wirken.
Suko war so schnell wie möglich gekommen. Nach dem ersten Kennenlernen und Abtasten hatten sie etwa eine Viertelstunde im Büro der Psychologin verbracht, um über die wichtigen Dinge zu sprechen, die den Fall betrafen.
Für beide war Delanys Verschwinden ein Rätsel. Das blieb auch, nachdem Marcella Suko in allen Einzelheiten berichtet hatte, wie es dazu gekommen war. Eine Erklärung hatte sie nicht geben können, und das war auch John Sinclair unmöglich gewesen.
»Wichtig ist jetzt, daß er nicht an Sie herankommt«, hatte Suko dann erklärt.
»Er wird es leicht haben aufgrund seiner Fähigkeiten. Wenn ich mir ausmale, daß er sich schon hier im Raum befindet und nur auf eine günstige Gelegenheit wartet, um zuschlagen zu können, da wird mir ganz anders.« Sie schüttelte sich. »Das ist kaum zu begreifen, und ich weiß nicht, ob Sie mich schützen können, Suko.« Sie schaute ihn fragend an.
»Es ist natürlich schwer«, gab er zu. »Trotzdem habe ich Hoffnung, denn ich glaube, daß auch jemand zu spüren ist, der sich nicht so zeigt wie wir.«
»Ach…«
»Ja, ich betone das Wort >spüren<. Sie werden es merken, Marcella.
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