Fürchte deinen Nächsten!
Ich ebenfalls, und ich setze auf Sie, weil Sie doch als Psychologin sensibilisiert sind. Sie können sich auf Menschen einstellen. Sie fühlen die Aura. Für Sie muß jeder Mensch so etwas wie eine Spur hinterlassen. Davor ist auch Delany nicht gefeit. Oder sehen Sie das anders?«
»Im Prinzip nicht.«
»Dann wären wir uns ja einig.«
Marcella nickte Suko zu. »Mit der Aura, die Sie angesprochen haben, liegen Sie richtig. Ich habe mich oft und lange mit ihm unterhalten. Ich war nie seine Beichtmutter, denn ich bin nicht richtig an ihn herangekommen. Da stand immer etwas zwischen uns. Aber ich habe schon gespürt, daß er etwas Besonderes ist, und das im negativen Sinne.« Sie begann, in ihrem Büro hin und her zu gehen und unterstrich jeden gesprochenen Satz durch Gesten. »Er hat etwas an sich, das ich nicht durchdringen konnte. Es war wie eine Mauer, nicht sichtbar, aber sie war da. Ich weiß nicht einmal, ob er sie bewußt aufgebaut hat. Jedenfalls habe ich sie bemerkt, und sie stoppte mich, bevor ich richtig zur Sache kommen konnte.«
»Hatten Sie Angst vor ihm?«
Marcella Ash blieb stehen. »Auch.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Es war die Angst, das Gefühl, daß einem die Dinge aus den Händen gleiten. Auch waffenlos sah ich ihn wie eine lebende Waffe an. Zugleich wurde mein Ehrgeiz geweckt.« Sie lächelte verloren und fügte hinzu: »Er war wohl nicht stark genug, denn die Wand zwischen uns blieb bestehen.«
»Hat er Ihnen nie etwas von seinen Motiven erzählt? Ich meine, da muß es doch Gründe geben, weshalb er diese fürchterlichen Taten begangen hat.«
Marcella runzelte die Stirn. »Bestimmt hat es die gegeben. Nur konnte ich sie nicht finden. Sie waren vergraben, aber es muß etwas mit dem Tod seiner Eltern zu tun haben, denn sie sind nicht auf eine normale Art und Weise gestorben. Sie wurden ermordet, und man hat den Täter nie gefaßt.«
»Wie wurden sie umgebracht?«
Marcella zögerte mit der Antwort. »Es war ein schlimmes Killing«, flüsterte sie. »Man hat seinen Vater und seine Mutter regelrecht hingerichtet. Er fand sie auf einem großen Tisch liegend. Die Waffen steckten noch in den Körpern.«
»Was waren das für Waffen?«
»Macheten!«
Suko sagte nichts. Er dachte nur daran, wie das letzte Opfer ausgesehen hatte. Es war durch eine Stich- oder Hiebwaffe umgebracht worden, und das hätte auch auf eine Machete gepaßt.
»Ich kenne die Bilder der Toten«, fuhr Marcella fort. »Die Tat zu entdecken, muß für Judas Delany ein Trauma gewesen sein und so stark, daß es ihm nicht gelang, dieses Trauma zu überwinden. Er hat mit gleicher Münze zurückgezahlt, denke ich mir.«
»Nur daß er nicht allein war«, sagte der Inspektor.
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, er wird meiner Ansicht nach Unterstützung gehabt haben, und zwar von einer Kraft, die wir noch nicht kennen, die ihn aber fest im Griff hält und zu einer anderen Person machte.«
»Denken Sie dabei auch an den Teufel wie Ihr Freund John Sinclair? Fr hat es zumindest nicht ausgeschlossen.«
»Das ist richtig, Marcella. Der Teufel ist variabel. Er kann in verschiedenen Gestalten auftreten. Er ist ein Meister der Verkleidung. Ich will nicht unbedingt sagen, daß seine Kräfte grenzenlos sind, aber damit kommen wir der Sache schon nahe. Fast würde ich sagen, daß er Delany in die Lehre genommen hat.«
»Aber nicht einfach so.«
»Wie meinen Sie das?«
»Genau kann ich es Ihnen nicht sagen.« Sie deutete auf ihre Brust. »Es muß bereits etwas in ihm gesteckt haben, das es ihm leicht machte, diesen Weg zu gehen.«
Suko nickte. »Eine gewisse Anfälligkeit setze ich voraus, und ich weiß auch, daß es derartige Menschen gibt. Mein Freund und ich treffen sie immer wieder.«
»Schrecklich«, flüsterte die Psychologin. »Es muß für Sie immens schlimm sein, immer wieder mit dem Bösen konfrontiert zu werden. Oder liege ich da falsch? Ich weiß, was Menschen durchmachen und durchleiden können. Das gehört zu meiner täglichen Arbeit. Da müssen Sie schon sehr stark sein, um nicht zu zerbrechen. Was gibt Ihnen diese Stärke?«
Suko zuckte die Achseln. »Es ist schwer, sich selbst zu analysieren. Trotzdem haben Sie recht. Man muß innerlich gefestigt sein. Aber es gibt auch einen Gegenpol. Bei mir ist es meine Partnerin Shao. Bei John sind es die Freunde, denn wir sind inzwischen wie eine große Familie. Es tut uns allen gut, da Sicherheit zu finden. Wir haben immer eine Ecke, in die wir uns zurückziehen
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