Fürchte deinen Nächsten!
der ersten Tat wissen müssen, doch die waren nicht bekanntgeworden. Selbst in der Boulevard-Presse nicht.
Also doch Judas?
Dr. Marcella Ash wußte es nicht. Sie würde es vielleicht nie wissen, denn auch ihr waren Grenzen gesetzt. Ebenso wie der Polizei, die ebenfalls vor einem Rätsel stand.
Mit dem Kollegen Alex Rankin arbeitete sie gut zusammen. Auch er versuchte, Verbrechen von der psychologischen Seite aufzuklären. Einige Erfolge hatte er schon errungen, doch bei Judas stand auch er vor einem Rätsel.
Inzwischen fragte Marcella sich, ob es nicht doch Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die nicht zu erklären waren. Die irgendwo zwischen Sein und Nichtsein schwammen und letztendlich akzeptiert werden mußten, auch wenn keine logische Begründung gefunden wurde.
Selbst die Kollegen von der Polizei wollten dies nicht mehr ausschließen und hatten sich deshalb mit einem Mann kurzgeschlossen, der auf übersinnliche Fälle spezialisiert war. Marcella kannte den Mann nicht persönlich, aber sie hatte schon von ihm gehört. Er hieß John Sinclair und wurde scherzhaft Geisterjäger genannt.
Marcella wußte nicht, wie sie sein Eingreifen einschätzen sollte. Noch vor kurzem hätte sie über einen derartigen Menschen nur gelächelt, doch Judas hatte sie eines Besseren belehrt, auch wenn sie es sich noch nicht eingestehen wollte.
Per Telefon hatte Alex Rankin ihr den Besuch des Kollegen angekündigt. Es war sogar möglich, daß sie zu zweit hier eintrafen, und sie würden sicherlich mit Judas sprechen wollen.
Es war wie immer. Er saß in seiner Zelle. Marcella hatte sich vorher informiert. Um diese Zeit nahm er ein kleines Essen zu sich. Gebäck, Süßigkeiten, die er in sich hineinstopfen konnte. Dazu trank er immer Schokolade.
Er war ein Mensch, der im Prinzip keinen Arger machte. Jeder kam mit ihm zurecht. Judas war kein einziges Mal durchgedreht oder hatte irgendwelche Pfleger angegriffen. Nein, so wie ihn wünschte man sich im Prinzip jeden Insassen. Ruhig, manchmal sogar höflich, aber man brauchte nur in seine Augen zu schauen, um die zweite Seite, die Bestie, in ihm erkennen zu können.
Einen Zeitpunkt für das Eintreffen des Besuchs hatte man Marcella Ash nicht genannt. Im Laufe des Nachmittags hatte es geheißen, und der war noch recht jung.
Sie erhob sich hinter ihrem Schreibtisch und stellte das Glas weg. Dann fiel ihr ein, daß sie den Mann nicht mit einer Whiskyfahne begrüßen wollte. Aus der Handtasche holte sie Pfefferminz und kaute das Bonbon langsam und mit Genuß.
Obwohl sie als Wissenschaftlerin diesem Sinclair und seinen Methoden recht skeptisch gegenüberstand, wollte sie ihn das auf keinen Fall merken lassen. Bei einem Problem wie diesem tat jede Hilfe gut, und sollten die Theorien auch noch so weit hergeholt worden sein. Konnte ja sein, daß es etwas brachte, wenn Sinclair mit Delany zusammentraf. Im Leben war nichts unmöglich.
Vor dem Fenster blieb sie stehen und schaute in den Park. Er wirkte hier weniger gepflegt, aber der alte Gärtner war dabei, das Laub aufzusammeln. Er bewegte sich langsam, schaute auch zum Fenster hin, sah die Frau dort stehen und winkte.
Marcella lächelte nur zurück. Außerdem meldete sich das Telefon auf ihrem Schreibtisch. Nach dem dritten Bimmeln hatte sie abgehoben. Der Mann von der Anmeldung meldete sich.
»Ein gewisser John Sinclair möchte Sie sprechen, Dr. Ash. Kann ich den Mann zu Ihnen lassen?«
»Ja, ich erwarte ihn.«
»Danke.«
Sie legte auf und atmete tief durch. Jetzt war sie mehr als gespannt…
***
Ich war im Rover sitzengeblieben und hatte die rechte Scheibe nach unten fahren lassen, während der Uniformierte telefonierte, auflegte und mir zunickte. »Sie können fahren. Ihren Wagen stellen Sie am besten am linken Rand des Parkplatzes ab. Von dort aus ist es nicht mehr weit zu Dr. Ashs Büro. Es liegt in dem Seitentrakt neben dem Parkplatz, und benutzen Sie den kleinen Eingang.«
»Herzlichen Dank.«
Er grüßte und fuhr an. Im Sommer versteckten sich die Bauten der Klinik sicherlich hinter dem Laub der Bäume. Das war jetzt nicht mehr möglich. All die Linden, Platanen und auch Eichen hatten ihr Kleid verloren und sahen nackt aus. Von den Wegen waren die Blätter noch nicht überall weggefegt worden, und so rollte der Rover über mehr oder weniger nasses Laub hinweg, das an meinen Reifen klebenblieb.
Die Klinik war ziemlich groß. Nicht nur breit, sondern auch hoch. Ein graues Bauwerk mit mal hohen, mal weniger hohen Fenstern,
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