Fürchte dich nicht!
bekommen, bei Geis zu bleiben.
»Drei Tage«, hatte Eichkorn gesagt. »Ich gebe dir drei Tage. Entweder ist Geis dann über den Berg oder …«
Heute Abend ging der dritte Tag zu Ende. Und Geis war nicht über den Berg.
Er stöhnte. Immer wieder musste Viola an Noella denken, an das Mädchen im Kongo, das in ihren Armen gestorben war.
Würde sich die Geschichte wiederholen? Würde sie erneut Schuld am Tod eines Menschen tragen?
Wenn sie doch nur Hilfe holen könnte. Das schlichte Dreizimmerapartment, Teil eines anonymen Ferienkomplexes, in dem Geis und sie eingeschlossen waren, befand sich nur wenige Straßen vom Zentrum Norderneys entfernt. Allerdings gab es weder ein Telefon noch durfte sie ohne Begleitung die Wohnung verlassen. Eichkorns Vertrauen in ihre Loyalität hielt sich in engen Grenzen. Abwechselnd wurden sie von Saskia Fischer und dem anderen Norderneyer Polizisten bewacht, und unverhohlen hatte Eichkorn damit gedroht, Geis zu töten, sollte Viola sich nicht an seine Anweisungen halten.
Sie nannte ihn immer noch Eichkorn. Nicht Deus, wie seine Anhänger. Es fiel ihr schwer, ihre Abneigung nicht zu zeigen. Er war widerlich. Trotzdem empfand sie keinen körperlichen Ekel. Nicht so wie in den Zeiten vor ihrer Infektion. Ein Hoch auf das Virus in ihrem Gehirn.
Die Tür wurde aufgeschlossen, jemand kam herein. Viola spürte Hände auf ihren Schultern.
»Er sieht beschissen aus, findest du nicht?«, flüsterte Saskia Fischer ihr ins Ohr. »Ob er wohl die Nacht überleben wird?«
»Er wird«, sagte Viola. »Das verspreche ich dir.«
»Oh! Habe ich deine Gefühle verletzt?« Fischer verstärkte den Druck ihrer Hände. »Glaub nicht, dass du mir Deus wegnehmen kannst. Eine Nacht noch, dann ist der Spuk zu Ende.«
Du kannst ihn haben, dachte Viola. Meinetwegen sogar in Geschenkpapier verpackt.
Ein Klaps auf den Hinterkopf zum Abschied, dann war Saskia Fischer wieder verschwunden.
»Schlampe«, sagte Geis.
Das Wort hörte sich klarer an als alles, was Geis in den letzten Tagen von sich gegeben hatte. Seine Augen waren geöffnet.
»Bist du wach?«
Nicken.
»Hast du mitbekommen, worüber wir geredet haben?«
Erneutes Nicken.
»Wie geht es dir?«
»Zum Kotzen. Wo …«
»Wo du bist? Auf Norderney. In einer Ferienwohnung.«
»Was … was … machst du …«
Viola gab ihm einen Schluck Tee zu trinken. »Eichkorn hat mir erlaubt, mich um dich zu kümmern.«
»Aber …« Er verschluckte sich und spuckte den Tee auf die Bettdecke.
»Entschuldige!« Viola wischte ihm den Mund ab.
»… du bist zu ihm gefahren.«
»Ja. Und du solltest mir folgen. Das war mein Plan. Denkst du, ich habe nicht gemerkt, dass du meine E-Mails gelesen hast? Ich wusste, dass du mir misstraust. Doch anstatt dafür zu sorgen, dass ich zusammen mit allen anderen verhaftet werde, lässt du dich von einem Dorfpolizisten aufs Kreuz legen. Eine tolle Leistung, Martin.«
»Warum … warum hast du nicht mit mir geredet?«
»So wie du mit mir?«, gab Viola bitter zurück. »Wenn ich dir die Wahrheit gesagt hätte, hättest du mir entweder nicht geglaubt oder mich davon abgehalten, nach Ostfriesland zu fahren. Ich wollte, dass Eichkorn verhaftet wird. Also musste ich dir vorspielen, ich würde die Seiten wechseln. Hat doch wunderbar geklappt, oder? Konnte ich ahnen, dass du es vermasseln würdest?«
War das Wasser in seinen Augen? Weinte er tatsächlich?
»Du bist verrückt.«
»Vielleicht.« Viola lächelte. »Weißt du, wie man das auch ausdrücken kann?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich liebe dich, Martin.«
49
Norderney, Nordhelm-Siedlung
Er begriff es nicht. Da war ein Gefühl, das er nicht in Worte fassen konnte. Es drückte ihn nach unten wie eine Welle, die einen von den Beinen holt. Wenn er doch bloß nicht so schrecklich müde gewesen wäre. Dann würde er darüber nachdenken können.
Als er wieder aufwachte, war es dunkel im Zimmer. Der Schlaf hatte ihn erfrischt. Er richtete sich auf und schaute aus dem Fenster. Die Sterne am dunkelblauen Himmel sahen aus wie auf Geschenkpapier gemalt. Plötzlich fühlte er sich allein. Etwas fehlte. Viola.
Tränen liefen ihm über die Wangen. Endlich fiel ihm der Name ein: Trauer. Eine große Traurigkeit füllte ihn aus. Er wusste nicht, weshalb er traurig war und was dieses Gefühl ausgelöst hatte. Doch noch nie hatte ihn eine Empfindung so stark berührt.
Nach einer Weile versiegten die Tränen. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, das grelle Deckenlicht blendete ihn.
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