Fürchte dich nicht!
den Kopf schoss. Sein Mund wurde trocken, die Zunge klebte am Gaumen. Gleichzeitig fielen ihm die Augen zu.
»Ich habe ein Schlafmittel beigemengt«, sagte Eichkorn sanft. »Das macht es Ihnen und uns leichter.«
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Betreff: Die Gemeinschaft der Freien
1. Wir lassen uns keine Angst mehr machen. Weder von ideologischen noch von staatlichen Instanzen, die uns vorschreiben wollen, wie wir zu leben haben. Zwänge, Neurosen und Psychosen, die uns zu gängeln versuchen, verlieren ihre Kraft. Mit uns beginnt das Zeitalter der Angstfreiheit. So wie mit Adam und Eva das Zeitalter der Angst begann, als sie vom Baum der Erkenntnis aßen und sich schuldig fühlten.
2. Wir akzeptieren keine Götter über uns. Wir sind so göttlich wie die Erschaffer der Welten und so menschlich wie die Götter, die vom Himmel herabstiegen. Wir knien vor nichts und niemandem und niemand soll vor uns knien.
3. Von allen anderen Freiheitsbewegungen unterscheidet uns, dass wir keine Diktatur der Freiheit errichten, keine Privilegien für uns oder andere schaffen wollen. Die Angstfreiheit unserer Gene bewahrt uns davor, die alte Unterdrückung in neuem Gewand zu wiederholen. Nur wer keine Angst empfinden kann, ist wirklich frei.
4. Die Angst der Mächtigen, die Kontrolle über das Heer der Unmündigen zu verlieren, bedroht unsere physische Existenz. Sie werden alles daransetzen, uns zu therapieren, zu isolieren und zu eliminieren. Deshalb müssen wir uns tarnen und schützen. Jedes Mitglied unserer Gemeinschaft hat für alle anderen einzustehen, Unterstützung und Hilfe zu leisten. Wer einen von uns den Kräften der Angst überlässt, gefährdet uns alle.
5. Unser uneingeschränktes Ziel ist die Vertreibung der Angst. Dem ordnen wir alles andere unter, auch unser persönliches Schicksal. Die Angstfreiheit darf nicht mit uns sterben, ein Leben in Angst ist keine Alternative. Jetzt und hier besteht die Chance, eine neue Welt zu schaffen. Lasst sie uns nutzen!
gez. Deus
Siebter Teil
Der Tod
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Berlin, Innenministerium
Der Minister kam langsam auf Betriebstemperatur. Am Hals schwoll eine Ader und die Gesichtshaut färbte sich dunkelrot, mit einem leichten Stich ins Violette. Anzeichen dafür, dass ein Wutausbruch unmittelbar bevorstand.
Der Minister war gefürchtet für seine Wutausbrüche. Im Ministerium duckte ein jeder den Kopf, wenn er einen dieser Tage hatte – und weder Freund noch Feind verschonte. Jeder läppische Fehler provozierte unweigerlich einen Schreianfall. Und wehe, jemand wagte auch nur den leisesten Widerspruch. Kübel voll Hohn und Zynismus schüttete der Minister dann aus, bis der Unglückliche am Boden zerstört war. An solchen Tagen sah man erwachsene Männer wie geprügelte Schuljungen durch die Flure schleichen, während Frauen Sonderschichten vor den Toilettenspiegeln einlegten, um ihr von Weinkrämpfen zerstörtes Make-up zu erneuern.
Lange fürchtete sich nicht vor den Anfällen seines Chefs. Als der Minister noch nicht Minister war, sondern einfacher Bundestagsabgeordneter, hatte Lange ihm bereits als wissenschaftlicher Mitarbeiter gedient. Von da an waren beide aufgestiegen. Zuerst kam der Vorsitz eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, dann der Staatssekretärsposten in einem unwichtigen Ministerium. Lange fungierte als Chefberater und Stabschef, organisierte Wahlkämpfe, schaltete Konkurrenten inner- und außerhalb der Partei aus und kümmerte sich um die abgelegten Affären seines Gönners, der inzwischen als Hoffnungsträger und Kandidat für höhere Aufgaben gehandelt wurde. Es störte Lange nicht, dass er im Schatten blieb, für die politische Bühne fehlten ihm Charisma und rhetorische Brillanz. Geduldig verfolgte er das langfristige Ziel, ins Zentrum der Macht vorzustoßen, dafür nahm er Rückschläge des Mannes, für den er arbeitete, ebenso in Kauf wie das Scheitern seiner eigenen Ehe.
Und jetzt war Lange da, wo er immer hingewollt hatte: Ministerialdirektor und wichtigster Abteilungsleiter im Bundesinnenministerium. In Fragen der inneren Sicherheit gab es keine Instanz, die über ihm stand. Vom Minister einmal abgesehen. Und den hatte er in der Hand.
»Noch zehn Tage«, sagte der Minister. »Dann findet dieser gottverdammte Gipfel auf dieser idiotischen Insel statt. Falls wir ein Problem haben, zögern Sie nicht, es mir zu erzählen! Es wäre blamabel, eine Katastrophe, die größte anzunehmende Kacke. Aber lieber trete ich mit steifer
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