Fürchte dich nicht!
sich mehrfach täglich bildete, wenn die Autos der Touristen von der Norderneyer Fähre rollten und sich durch die Innenstadt von Norden quälten. Vermutlich kannten die meisten Touristen die Dreißigtausend-Einwohner-Stadt nur aus der Stauperspektive. Für sie war Norden nichts weiter als eine riesige Zu- und Abfahrtsrampe für die Fähren nach Norderney und Juist. Sobald die neue Umgehungsstraße fertiggestellt war, würde die Stadt vollends in Vergessenheit geraten. Schon jetzt wurde sie nicht einmal auf Straßenschildern erwähnt. Nur Norddeich, der Stadtteil Nordens, der direkt am Wattenmeer lag. Der Stadtteil, in dem sich der Hafen befand.
Auch Martin Geis ließ Norden meistens so schnell wie möglich hinter sich. Wenn er auf dem Weg nach Hannover war, um seine Tochter zu besuchen. Erst drei oder vier Mal hatte er am Norder Marktplatz angehalten. Vor dem Gebäude der Norder Kripo und stets aus dienstlichen Gründen. Denn die Verbindungen zwischen Norden und den Inseln waren traditionell eng. Viele Insulaner hatten Verwandte auf dem Festland oder besaßen dort Wohnungen, die sie während der kalten Jahreszeit nutzten. Da blieb es nicht aus, dass sich bei Ermittlungen die Wege der Norderneyer und der Norder Beamten kreuzten.
Heute fuhr Geis am Marktplatz vorbei. Er kannte sich in der Stadt nicht besonders gut aus und folgte den Hinweisschildern, die ihn zur Ubbo-Emmius-Klinik führten. Auf Norderney und Juist kannte man die Klinik unter einem anderen Namen: Das Trockendock . Nach einer anstrengenden Saison, die für manche nur mit reichlich Alkohol zu bewältigen war, ließen sich die Alkoholkranken oder -gefährdeten für ein paar Wochen Entgiftung in die Klinik einweisen. Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft begann das Trinken aufs Neue. Es sei denn, Alkohol und Inselkoller hatten schon so gravierende Schäden hinterlassen, dass die Patienten in die gleich nebenan gelegene psychiatrische Abteilung des Krankenhauses umziehen mussten. Geis wusste, dass die Ubbo-Emmius-Klinik ihr Angebot dieser Nachfrage angepasst hatte. Während der Ausbau der psychiatrischen Abteilungen kräftig vorangetrieben wurde, hatten andere Abteilungen schließen müssen.
Eine Intensivstation gab es jedoch nach wie vor. Und auf der wurde Hannah Berends behandelt, wie Geis durch einen Anruf am Morgen erfahren hatte.
Der Hauptkommissar stellte seinen Wagen auf dem Kran-kenhausparkplatz ab und ging um einen Neubau herum zum Eingang. Eine große Hinweistafel in der steril weißen Eingangshalle listete die Stationen auf. Geis nahm die Treppe zum ersten Stock und klingelte. Es dauerte ein paar Minuten, bis eine Krankenschwester öffnete. Sie schaute auf den Dienstausweis, den ihr der Polizist zeigte, und nickte hektisch zu seinen Erklärungen. Dann war sie wieder verschwunden. Geis stand allein in dem kahlen Flur. Nur das Summen, Piepsen und Stampfen der Beatmungs- und Kontrollgeräte war zu hören. Die Melodie vom nahenden Tod. Vor fünf Jahren, als sein Vater nach wochenlangem Koma gestorben war, hatte Geis sich vorgenommen, es nicht so weit kommen zu lassen. Lieber rechtzeitig abtreten, solange er noch bei Verstand war. Bloß nicht zu einem verkabelten Stück Fleisch werden, durch das Maschinen Flüssigkeiten spülten und Sauerstoff pumpten.
Ein Weißkittel stürmte auf ihn zu. »Herr Kommissar?«
Geis schätzte den Arzt auf Ende zwanzig. Der flaumige Bart war lediglich ein Versuch, erwachsen zu wirken.
»Ich bin Dr. Wagner.«
Der Polizist schüttelte die hingehaltene Hand. »Wie geht es Hannah Berends?«
»Schwer zu sagen. Wir haben es mit einem Polytrauma und Multimorbidität zu tun.«
Warum mussten sich Ärzte immer hinter komplizierten Wortkonstrukten verschanzen?
»Was heißt das?«, fragte Geis schroff.
Wagner zuckte kurz. Offenbar ein sensibles Kerlchen.
»Die Verletzungen, die von der …«
»… tätlichen Auseinandersetzung …«
Wagner nickte: »… herrühren, scheinen nicht so schwerwiegend zu sein. Deshalb konnten wir uns zunächst das hohe Fieber nicht erklären. Die Patientin gab an, sich erkältet zu haben, aber die Symptome …«
»Und was ist es nun?«, unterbrach Geis.
»Eine Krankenschwester ist zufällig auf die Lösung gestoßen. Sie hat im Unterbauchbereich der Patientin …« In Wagners Kitteltasche piepste etwas. Der Arzt nahm das Gerät heraus und schaute auf das Display. »Moment, ich bin gleich wieder da.«
Nicht aufregen, sagte sich Geis. Anscheinend redet Wagner umso umständlicher, je mehr er
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