Fürchte dich nicht!
eingeschlafen war. Am Morgen hatte sie dann die erste Fähre genommen und war vom Berliner Hauptbahnhof, ohne Umweg über ihre Wohnung, direkt zum Institut gefahren.
Von Daniel lag nur eine zwei Tage alte Mitteilung auf ihrem Schreibtisch. Die Leiche des Patienten aus Dortmund, der sich im FSME-Fieber selbst erdrosselt hatte, war bereits eingeäschert worden. Keine Chance, an Viren zu kommen.
Viola entnahm ihrer Tasche die Röhrchen mit den Zecken und ging in das Labor, um das Drüsensekret der Tiere für die Untersuchungen zu präparieren. Während der nächsten Stunden war sie so intensiv in ihre Arbeit vertieft, dass sie alles um sich herum vergaß. Irgendwann stellte sie erstaunt fest, dass es draußen längst dunkel geworden war. Und mitten in der Nacht wurde sie vom Sicherheitsdienst überrascht, als sie auf der Toilette mit sich selbst redete.
Es war die vierzehnte Zecke. Sie enthielt FSME-Viren, die zumindest äußerlich die gleiche Struktur aufwiesen wie die, die in Hannah Berends’ Gehirn für Chaos gesorgt hatten. Viola wusste nicht, ob sie sich freuen oder ihre Entdeckung verfluchen sollte. Falls es sich um einen neuen Subtyp handelte – welche Gefahren gingen dann von ihm aus? War der bisherige Impfstoff wirksam oder mussten sie eine Modifikation entwickeln? Und wie lange würde das dauern?
Plötzlich fühlte sich Viola sehr müde. Minutenlang saß sie regungslos auf ihrem Stuhl. Dann schaltete sie den Monitor aus.
Gegen acht wachte sie auf. Sie war nicht nach Hause gefahren, sondern hatte einige Stunden in ihrem Büro geschlafen, die Beine auf dem mit Papieren beladenen Schreibtisch ausgestreckt. Übermüdet und mit schmerzendem Rücken schleppte sich Viola zur Toilette und warf sich ein paar Hände voll kaltes Wasser ins Gesicht. Ihr Spiegelbild sah grauenhaft aus. Wie eine russische Flüchtlingsfrau im Großen Vaterländischen Krieg, nach einem Winter der Entbehrung und der Kälte. Bevor sie Professor Blechschmidt begegnete, musste sie sich dringend restaurieren.
Gewöhnlich verzichtete sie auf jegliches Make-up, doch für besondere Ereignisse hatte sie ein Depot mit Schminkutensilien im Schreibtisch. Nach einer Viertelstunde war sie mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden. Jedenfalls konnte sie sich wieder unter Menschen trauen. Was sie zuerst in dem kleinen Café an der Ecke testete, wo sie ein schnelles Frühstück zu sich nahm, und dann beim anschließenden Gang durch das Institut, das inzwischen seine normale Arbeitsintensität erreicht hatte.
Daniel Felsenburg war immer noch nicht aufgetaucht. Egal, sie konnte nicht länger Rücksicht auf ihn nehmen.
Im Vorzimmer von Professor Blechschmidt musste sie nur eine Minute warten. Das hätte sie stutzig machen sollen. Ebenso die fürsorgliche Freundlichkeit, mit der der Professor sie empfing und zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch geleitete. Blechschmidt war ein Mann von Mitte fünfzig, der sich wie viele Übergewichtige ziemlich behände bewegte. Mit seinem rosigen Gesicht, von Fettpolstern straff und faltenlos gehalten, sah er aus wie ein großer, alt gewordener Junge.
»Ich habe Sie schon erwartet, Viola.«
Da begriff sie es: Daniel hatte geredet, Blechschmidt war längst eingeweiht.
»Daniel …« Ihre Stimme klang rau.
»Nehmen Sie es ihm nicht übel. Er hat richtig gehandelt.«
»Nun, dann kann ich mich ja kurzfassen.« Viola bemühte sich nicht, ihre Wut zu verbergen. »In der letzten Nacht ist es mir gelungen, FSME-Viren in einer auf Norderney eingesammelten Zecke nachzuweisen. Zudem hat es auf der Insel einen zweiten Todesfall gegeben, bei dem der Verdacht auf FSME besteht. Hinzu kommen mehrere unklare FSME-Erkrankungen in Großstädten. Aus alldem …«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, unterbrach sie Blechschmidt. »Sie glauben, dass wir es mit einer Mutante des FSME-Virus zu tun haben.«
»Und wenn es so wäre?«, entgegnete Viola trotzig.
»Sie haben nichts in der Hand, womit Sie diese Vermutung belegen können. Bevor wir auch nur laut darüber nachdenken, brauchen wir mehr Fälle und vor allem belastbare Daten.«
»Deshalb bin ich ja hier. Ich möchte, dass wir die Viren mit allen verfügbaren Mitteln analysieren.«
»Und genau das werden wir tun.«
Warum hatte sie das Gefühl, dass sie bei diesem › wir ‹ nicht dazugehörte?
»Heißt das, ich kann den neuen Hochleistungs-Sequenzer benutzen?«
»Viola!« Blechschmidt wackelte beim Reden mit dem Oberkörper auf und ab, als würde er auf einer
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