Fürchte dich nicht!
schleuderten Menschen herum oder stürzten sie in tiefste Abgründe, untermalt von stampfender Musik und lustvollem Kreischen. Niemals hätte sich Viola freiwillig in dieses Getümmel begeben. Und doch genoss sie das gruselige Gefühl, den Popcorn- und Zuckerwatteatem des Ungeheuers aus sicherer Distanz riechen zu können.
»Na, Lust auf eine Fahrt in der Achterbahn?«
Zwei junge Männer keilten sie links und rechts ein.
»Nein, danke.« Sie drehte sich um.
»He! Warte doch mal!«
Die Männer gingen ihr hinterher. Viola beschleunigte ihre Schritte.
»Mein Kumpel findet dich unheimlich süß.«
Nicht reagieren. Nicht rennen. Keine Angst zeigen.
»Magst du ihn etwa nicht?«
Eine Hand an ihrer Jacke. Viola riss sich los. Rannte jetzt doch.
Wieder grapschte einer der Typen nach ihr. Sie schlug nach hinten, traf ihn im Gesicht.
»Du blöde Ziege!«
Sie wollte um Hilfe rufen, aber rennen und schreien gleichzeitig funktionierte nicht. Endlich das Hotel. Der Nachtportier guckte überrascht. Aufzug wäre jetzt das Letzte gewesen. Sie rannte die Treppen hinauf, schloss die Tür hinter sich ab, wartete darauf, dass sich der Atem beruhigte.
Er beruhigte sich nicht. Saublöd, sie hyperventilierte. In der Nasszelle, die nicht einmal groß genug war, um umzufallen, stopfte sie sich ein Handtuch vor den Mund. Das Herz raste, die Brust schmerzte, ihre Arme prickelten und wurden taub. Wie sollte sie bloß die Nacht überleben?
21
Münster, Altstadt
Martin Geis kannte Münster von einigen Seminaren, die in der Polizei-Führungsakademie in Hiltrup stattgefunden hatten. Abends waren sie durch die Altstadt gezogen, hatten sich über die vielen Fahrradfahrer und den Turmbläser von St. Lamberti gewundert und vergeblich ein Vergnügungsviertel gesucht. Das Einzige, was sie fanden, waren Kneipen, so brav und bieder wie die ganze Stadt. Doch heute, nach zwei Jahren auf Norderney, kam ihm Münster vor wie eine lebendige Metropole.
Nachdem Geis seinen Wagen in einem Parkhaus abgestellt hatte, überquerte er das Rinnsal, das die Einheimischen Fluss nannten, und tauchte in das Gewirr der Altstadtgassen ein. Die Kiepenkerl-Statue auf einem gepflasterten Platz erinnerte ihn an eine Katastrophe, die vor zweieinhalb Jahren als Familientrip zum münsterschen Weihnachtsmarkt begonnen hatte. Eingeladen von Michaelas Eltern, waren sie an einem frühen Samstagmorgen von dem kleinen Emsstädtchen, in dem seine Schwiegereltern lebten, aufgebrochen und mit dem Zug nach Münster gefahren. Erste Zweifel am Sinn des Ausflugs kamen Geis schon im Regionalzug, in dem Gruppen von Zipfelmützenträgern lautstark alkoholische Getränke konsumierten. Das Getümmel im erstaunlich hässlichen münsterschen Hauptbahnhof verstärkte seine Vorbehalte. Doch das chaotische Gedränge und Geschubse auf dem Weihnachtsmarkt übertraf die schlimmsten Befürchtungen. Michaelas Vater drängte es zu den Glühweinständen wie einen Durstigen zum Wasserloch, Annika maulte bereits nach einer halben Stunde, sie wolle endlich wieder nach Hause, und Michaela setzte sich mit ihrer Mutter in ein Kaufhaus ab, während Geis mit Kind, Schwiegervater und Kälte kämpfte. Entsprechend mies war die Stimmung beim Mittagessen, für das sie zwanzig Minuten lang auf einen Tisch warten mussten.
Auf der Rückfahrt stank der Zug nach Erbrochenem. Uwe, Michaelas Vater, schaffte es wenigstens bis auf die Toilette, schlief dort allerdings ein und konnte nur mithilfe des Schaffners rechtzeitig geweckt werden. Und am Abend, im ungemütlichen, kleinen Gästezimmer unter dem Dach des schwiegerelterlichen Hauses, eröffnete Michaela ihm dann, dass sie sich seit Wochen mit Goronek traf und sich entschlossen habe, die Scheidung einzureichen. Ein Tag wie aus dem Lehrbuch für Familientragödien.
Geis wandte sich nach rechts und kam an einigen Kunst- und Antiquitätenläden vorbei. Viola de Montis zweiter Anruf hatte ihn in einem Moment erreicht, als er in Selbstmitleid zu versinken drohte. In dem gleichen Maße, wie ihm die Schwierigkeiten bewusst wurden, die seine Suspendierung verursachte, fühlte er sich mut- und kraftloser. Vieles musste geklärt und geregelt werden. Allein die Wohnungssuche. Das Souterrainzimmer, das er während seiner Aufenthalte in Hannover nutzte, befand sich im Haus eines ehemaligen Kollegen. Für ein oder zwei Wochenenden im Monat mochte es genügen, aber nicht als dauerhafter Wohnsitz. Zumal der Hausbesitzer angedeutet hatte, dass man den Raum für andere Zwecke
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