Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
seinem Kopf mit einem Seil festgebunden, das über einen Deckenbalken geschlungen war. Er trug eine Jeans, aber sein Oberkörper war nackt, genau wie seine kleinen Füße, die auf den schmutzigen Holzdielen weiß wie Porzellan leuchteten.
Durch den Schmutz auf seinen sommersprossigen Wangen zog sich eine feuchte Tränenspur.
»Hilf mir, Violet«, wimmerte er. »Er sagt die ganze Zeit, dass ich ein Hexer bin. Was meint er damit? Was ist mit ihm los?« Er zog an dem Seil, mit dem er gefesselt war, und seine zusammengequetschten Handgelenke wirkten entsetzlich schmal.
Ich fuhr zu Gianni herum und jetzt schlug die Angst mit voller Wucht zu. »Gianni? Was soll das? Was tust du da?« Aber meine Kehle wurde enger und meine Stimme leiser, bis sie nur noch ein Flüstern war. »Was tust du?«
Gianni stupste mich lächelnd mit dem Ellbogen an. »Jemand hat mir erzählt, dass ihr in Citizen Kane einen Hexer festhaltet, also bin ich zu euch hoch und hab ihn aus seinem Versteck gelockt. Schau dir nur mal die roten Haare an. Das ist eindeutig ein verdorbenes rothaariges Monster, das dem Teufel dient.« Er schwieg einen Moment, dann bückte er sich und hob etwas vom Boden auf. »Ich musste ihn dir zeigen, Vi. Nur ein besonderes Mädchen versteht, was ich tun muss. Und du bist besonders, Vi.«
»Was, um Gottes willen, musst du tun, Gianni?«
In dem Moment erkannte ich, was Gianni vom Boden aufgehoben hatte. Ich riss ihm die Lampe aus der anderen Hand und leuchtete damit den Dachboden ab.
Links von mir türmte sich ein Haufen faustgroßer Steine, die er gesammelt und hier heraufgeschleppt haben musste. Daneben stand ein roter Benzinkanister.
Gianni sah mich mit toten Augen an. »Ich muss den Hexer dazu bringen, zu gestehen. Du darfst zuschauen und kannst mir auch gerne dabei helfen. Ich glaube, ich habe genügend Steine gesammelt, und falls sie nicht reichen, hab ich auch noch ein rostiges altes Messer, das ich im Keller gefunden habe. Damit müsste es klappen. Wir müssen nur darauf achten, dass er noch lebt, wenn wir mit ihm fertig sind. Er soll die Flammen spüren. Ich habe nämlich gehört, dass man den Hexen den Teufel mit Feuer ausbrennen muss, aber das geht nur, wenn sie nicht schon tot sind, bevor man den Scheiterhaufen entzündet.«
Jack begann zu schreien. Er zerrte an dem Seil und schrie sich die Kehle aus dem Leib.
Durch seine Schreie hindurch hörte ich plötzlich noch etwas anderes. Hinter mir im Dunkeln lachte jemand. Ich hob die Laterne höher, aber ihr Licht war zu schwach, um bis in die hintersten Ecken zu dringen. Das Lachen schwoll an und wurde immer lauter.
»River?«, rief ich, aber meine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, das Jacks Schreie nicht übertönen konnte. »Bitte nicht«, wimmerte ich. »Bitte mach, dass es nicht River ist.«
Hilf mir, Freddie. Gianni wird ihn verbrennen. Was soll ich tun? Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Er ist nicht mehr er selbst, und ich glaube, ich weiß, wer dahintersteckt. Hilf mir, Freddie. Hilf mir, bitte …
Gianni griff nach dem Kanister. »Eigentlich kann ich ihn genauso gut jetzt schon mit Benzin überschütten. Das spart nachher Zeit.«
Er hob den Kanister über Jacks Kopf, und mir wurde klar, dass Freddie mir nicht helfen würde. Wie denn auch?
Sie war tot.
Ich rannte los und warf mich seitlich auf Gianni, der einen merkwürdig gutturalen Laut von sich gab und den Kanister fallen ließ. Das Benzin ergoss sich über die Holzdielen und verströmte seine beißenden Dämpfe.
Gianni rappelte sich wieder auf. Sein hübsches Gesicht war verzerrt, und er riss wie ein wildes Tier knurrend an meinem Arm, bis mir die Lampe aus der Hand geschleudert wurde.
Im gleichen Moment schossen Flammen empor.
Und plötzlich war Neely da.
Überall quoll dicker Rauch, sodass ich nichts sehen konnte, aber ich hörte immer noch das Lachen. Auf einmal rieb Gianni sich neben mir die Augen und rief: »Wo bin ich?« Im nächsten Moment lichtete sich der Rauch etwas, und ich sah, wie Neely alte Decken und Kleider auf das Feuer warf, bis er es erstickt hatte. Ich versuchte derweil Jack zu befreien, und als es mir endlich gelungen war, den letzten Knoten zu lösen, packte Neely uns und schob uns vom Dachboden und die Treppe hinunter.
Panisch kletterten wir durch das zerbrochene Fenster in der Bibliothek nach draußen. Ich stieß mir das Knie am Holzrahmen, fiel hin und spürte Gras unter meinen Händen. Hastig rappelte ich mich wieder auf, ohne Gianni aus den Augen zu
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