Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
Bluterguss plötzlich dunkelviolett, als wäre er im Verlauf des Tages schlimmer geworden statt besser.
»Ich weiß«, entgegnete ich.
»Er hat diese Gabe, mit der er leben muss. Eine mächtige Gabe. Und er ist allein. Er hat niemanden, mit dem er darüber reden kann – niemanden, der ihm hilft, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.«
Ich trank schweigend meine Limonade, als ich plötzlich wieder dieses Kribbeln spürte, das ich neulich schon mal gespürt hatte, als ich nachts in der Küche saß und das Gefühl hatte, dass mich jemand beobachtete. Meine Hand fuhr unwillkürlich zum Nacken und ich drehte mich um. Nichts. Vor dem dunklen Küchenfenster lag nichts als die Nacht und auf der Scheibe blickte mir das Spiegelbild von Neely und mir selbst entgegen.
Ich dachte an das Lachen zurück, das über den Dachboden gehallt hatte, und schauderte.
Neely stand auf und zog den Reißverschluss seiner Windjacke auf. Darunter trug er ein schwarzes T-Shirt, aber das war es nicht, was mir sofort ins Auge stach, sondern die lange hellrote Narbe, die sich von seinem Hals bis zum rechten Arm hinunterzog.
» Verdammt «, sagte ich und bereute es sofort. Mich überkam das Bedürfnis die Narbe zu berühren, als könnte ich sie abkratzen und darunter Neelys gesunde Haut zum Vorschein bringen. Aber ich unterdrückte dieses Verlangen.
»Ist schon okay.« Er grinste. »Manchmal verschlägt es mir selbst noch den Atem, wenn ich sie mir im Spiegel anschaue. Du kannst sie ruhig anfassen, wenn du willst.«
Ich fuhr mit den Fingerkuppen sanft über seinen Hals und seinen Arm hinunter. Die Narbe endete erst am Handgelenk und die blasse Haut war an der Stelle ganz glatt und ungewöhnlich weich.
»Ist ziemlich schwierig, ständig darauf achten zu müssen, dass niemand sie sieht«, sagte Neely. »Vor allem, wenn man ein verwöhnter, milliardenschwerer Erbe ist, der in der Sonne gern mal das T-Shirt ausziehen würde, wie andere Menschen auch.«
»Wie ist es passiert?«
Neely lachte fast unhörbar.
»River war vierzehn«, begann er zu erzählen, und um seine Mundwinkel zuckte es immer noch amüsiert. »Ich war gerade dreizehn geworden. Mein Bruder wusste noch nichts von dem Funkeln, fing aber wohl allmählich an, etwas zu ahnen. Ich glaube, er spürte, dass er … anders war. Eines Tages waren wir beide am Strand und machten ein Lagerfeuer. River macht gerne Feuer, wenn ihn irgendetwas quält. Irgendwann haben wir angefangen uns zu prügeln. Wenn ich mich nicht mit anderen Jugendlichen anlegte, prügelte ich mich eben mit River.« Er hielt lächelnd inne. »Ich und mein Temperament. River weiß eigentlich, wie er mit mir umgehen muss und wie er mich wieder beruhigen kann, ohne zu viele Schläge abzukommen. Aber an dem Tag verlor er die Kontrolle.«
Ich kannte die Geschichte und wusste, was gleich kommen würde. Ich schloss die Augen. Manchmal sagte River also auch die Wahrheit.
Neely strich über meinen Arm. »Es war nicht seine Schuld. In dem Fall konnte er wirklich nichts dafür. Er war wütend auf mich und hatte böse Gedanken. Das ist ganz normal. Wir alle wünschen Menschen, auf die wir wütend sind, Schlechtes. Aber Rivers Gedanken sind nicht bloße Gedanken – sie sind Waffen . Wir wälzten uns im Sand, und irgendwann hockte ich auf ihm und drückte seine Arme nach unten, als er … mich etwas sehen ließ. Die blutige Leiche eines Mädchens, die zu meinen Füßen im Meer trieb. Sehr morbide und typisch für River. Er meinte es nicht so. Er dachte es nur, und damit … entstand das Bild, das ich sah. Ich bekam Angst, sprang auf und lief weg, und dabei stolperte ich … und fiel ins Feuer.«
Ich schlug die Augen auf.
Neely berührte seine Narbe und schüttelte den Kopf. »Ich bin mitten ins Feuer gefallen, Violet. Ich stand in Flammen. River warf mich zu Boden und schaufelte Sand auf mich, um die Flammen zu ersticken, und dabei schrie er die ganze Zeit weinend meinen Namen. Ich wurde irgendwann ohnmächtig. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Danach lag ich vier Wochen im Krankenhaus, wo mich die besten und teuersten Ärzte der Welt behandelten und taten, was sie konnten. Das ist alles, was ich zurückbehalten habe.«
Neely blickte auf seinen Arm hinunter. Er lächelte immer noch leicht, aber seine Augen hatten sich verdunkelt.
Ich strich behutsam über die höckerige weiße Haut auf seinem Unterarm. »Das tut mir leid«, sagte ich, weil es das Einzige war, das mir einfiel.
»Hör zu, Violet … ich weiß, dass
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