Fürchtet euch
den Blick im Hof herumwandern lassen, um all das zu betrachten, was du selbst übersahst: den Waldrand, den Bergkamm, einen Regenwurm, der über die Erde kroch. Ich habe oft zusammen mit ihm dort gesessen, als er noch ganz klein war, und manchmal meinte ich, seine Augen auf mir zu spüren. Dann drehte ich ganz schnell den Kopf, um ihn dabei zu ertappen, wie er mich ansah, aber es gelang mir nie. Jedes Mal saß er einfach nur da und starrte gebannt auf eine Schar Vögel, die als schwarze Silhouetten vor einem strahlenden Himmel dahinglitten, oder er schaute zu, wie der leichte Wind die trockenen Blätter der Eichen auf der Anhöhe hinter ihrem kleinen Haus zum Rascheln brachte.
Es hätte auch nicht das Geringste gebracht, wenn Doc Winthrop es rechtzeitig hoch zu Bens und Julies Haus geschafft hätte, denn weder ein betrunkener alter Landarzt noch eine halberfrorene alte Wurzelheilerin hätte dem Jungen irgendwie helfen können. Das wusste ich gleich, als ich ihn in der Nacht, in der er geboren wurde, zu Gesicht bekam. Aber eins kann ich Ihnen sagen, es hat mich richtig geärgert, dass Ben nicht mal in Erwägung ziehen wollte, auf mich zu hören, und daran musste ich auf dem ganzen Weg den Berg runter in dem Schneetreiben denken. Zeigen Sie mir in dieser Gegend eine Frau, die sich Christin nennt, und ich zeige Ihnen eine Frau, die was von Heilen versteht. Es ist nicht unchristlich, sich zu behelfen, wenn man arm ist. Das kann ich Ihnen versichern. Zeigen Sie mir hier eine Christin, und ich zeige Ihnen eine Frau, die weiß, was man pflücken sollte und wo man es findet. Wenn man nicht weiß, wie man sich selbst heilt, dann weiß man auch nicht, wie man in harten Zeiten überlebt. Meine Großtante hatte mir das so gut sie konnte beigebracht, und ich hatte noch nie gehört, dass ein Mensch nicht das tun wollte, was gut für ihn ist. Bis Ben genau das in der Nacht tat, als sein Junge geboren wurde.
Man kann so ziemlich alles, was man je im Leben braucht, da draußen in den Wäldern finden, wenn man gründlich sucht, und wer arm ist, der sucht gründlich. Wilder Ingwer beruhigt den Keuchhusten, und Springkraut hilft gegen Giftefeu, und wer auf Brautschau geht, holt sich am besten Bergamotte für frischen Atem und kräftige, schöne Zähne. Und ich habe festgestellt, dass eine gute Kermesbeerensalbe in einem kühlen, verregneten Herbst gut gegen Rheuma ist.
Gut, ich kann nicht behaupten, dass Tee oder Beten oder Kräuter dem Jungen geholfen hätten, aber eins kann ich Ihnen sagen: Es zu versuchen, hätte ihm jedenfalls nicht geschadet, vor allem, wenn man sich auskennt. Aber sicher ist auch, dass da draußen so manches wächst, das einen genauso schnell umbringt, wie man es essen kann, und man muss wissen, worauf man zu achten hat.
Als ich klein war, erzählte meine Großtante mir mal eine Geschichte von einem Trupp desertierter Konföderiertensoldaten, die in den Bergen nördlich von Madison zu verhungern drohten. Die meisten meiner Verwandten waren Unionisten, und der Krieg scherte sie nicht die Bohne, bis er wie eine schwarze Wolke über die Berge im Osten gekrochen kam. Als die Wolke sie erreichte, waren sie im Nu verbittert, weil sie notgedrungen in einem Krieg kämpfen mussten, der nicht ihrer war.
Sie erzählte mir die Geschichte von den Deserteuren, während wir auf der Veranda ihrer Hütte die Wäsche machten. Den ganzen Nachmittag hatte ich zugesehen, wie sie immer wieder die Hände in den mit Seifenwasser gefüllten Holzbottich tauchte und sich die Knöchel auf dem Waschbrett aus Aluminium wund scheuerte. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass die Knöchel von zarteren Händen längst geblutet hätten, und ich hatte Geschichten von Frauen gehört, die körbeweise Wäsche noch einmal waschen mussten, nachdem sie ihr eigenes Blut in braunen Streifen verschmiert auf den Laken sahen, die an der Leine in der Sonne trockneten.
Nachdem meine Großtante jedes Stück Wäsche ausgewrungen und in den Korb in meinen Armen gelegt hatte, bis er so schwer war, dass ich ihn kaum noch tragen konnte, schleppte ich die Last die Stufen runter in den Garten, wo ich die Unterwäsche und Kleider an Leinen aufhängte, die straff zwischen zwei Pfählen aus Akazienholz gespannt waren. Ich habe noch klare Erinnerungen daran, dass ich zwischen den Reihen wehender Laken entlangging und das Bild der Veranda und die Körperumrisse meiner Großtante aussahen wie in Sonnenlicht gestanzt. Ihre sanfte Stimme wehte die Stufen herab in den
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