Fuerstin der Bettler
nahm die Kassette an sich, und dann verschwanden sie.
Sie erreichten unbehelligt die Pforte, die noch immer offen stand, und Hannah schlüpfte hindurch. Die Bettlerin folgte ihr und zog die Tür hinter sich zu. »Soll ich absperren?«, fragte sie Hannah über die Schulter.
Doch Hannah konnte nichts sagen, sie konnte nur auf den Kerl schauen, der sich da breitbeinig vor ihr aufgebaut hatte, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Nein, Liss, lass ruhig offen«, sagte er spöttisch. »Ja glaubt ihr beiden denn, ihr könnt mich auf den Arm nehmen?«
Hannahs Herz klopfte heftig, und sie brachte keinen Ton heraus. Endlich stieß sie mühsam hervor: »Der Ro-te!«
»Also, das ist nett von euch, dass ihr mir die Kassette beschafft habt. Das weiß ich zu schätzen.« Er schnippte mit dem Finger, um ihnen zu bedeuten, dass sie ihm die Kassette aushändigen sollte, doch Hannah hielt sie noch fester an sich gedrückt. In dieser Kassette lag so viel Hoffnung für sie, dass sie deren Verlust nicht überleben würde. Das wusste sie.
Der Kerl trat auf sie zu, packte die Kassette und riss sie ihr einfach aus den Händen. Dann hielt er sie ans Ohr, schüttelte sie, und ein heiseres Lachen entfuhr seiner Kehle.
»Gut gemacht. Sehr gut gemacht. Wie das klimpert. Wollen doch sehen, welchen Schatz ihr mir da gehoben habt!«
Er drehte Hannah und der Schwarzen Liss den Rücken zu, suchte an der Mauer einen kleinen Vorsprung und schlug das Behältnis aus Zinn zweimal dagegen. Der Verschluss brach und Münzen und Schmuck fielen zu Boden.
»Na, so was!«, murmelte der Rote und pfiff durch die Zähne, kniete sich hin und begann aufzusammeln.
Hannah sah nur die Hand des Roten vor sich, wie sie gierig nach den Sachen griff, und plötzlich loderte in ihr eine zornige Flamme auf. Als der Rote die Brosche in der Hand hielt, die sie von ihrer Mutter zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte, brach ein Feuersturm aus Zorn und Wut in ihr los. Das alles gehörte ihr, ihr, ihr! Sie durfte sich nicht übertölpeln lassen. Sie durfte sich von diesem Kerl nicht noch tiefer in die Gosse treten lassen. Sie spürte das Futteral am Unterarm. Plötzlich hatte sie das Messer in der Hand, das die Luderin ihr gegeben hatte. Sie trat von hinten auf den Roten zu, der noch immer auf dem Boden hockte und die Münzen aufklaubte, hob die Hand und stach zu. Das Messer fuhr dem Roten in den Oberschenkel.
Sie hörte einen dumpfen Laut, so als wollte der Rote irgendetwas sagen. Er wollte sich umdrehen, wollte sich aufrichten, doch das Bein gehorchte ihm nicht. Sie wich zurück, um nicht in die Reichweite seiner Arme zu gelangen, und sah zu, wie er sich mühte, wie er versuchte, seinen schweren Körper aufzurichten. Der Rote brüllte, er schlug um sich und machte mit unglaublicher Behändigkeit einen Satz auf Hannah zu, die sich an die Wehrmauer drückte. Er bekam ihren Unterschenkel zu fassen und riss sie zu Boden. Doch Hannah wehrte sich. Sie wand sich wie eine Schlange. Wieder stach sie zu, wie blind diesmal, dann hörte sie ein schnalzendes Geräusch. Der Rote schrie erneut auf und ließ los. Blut schoss aus einer Wunde unterhalb der Wade. Sein Atem keuchte. Hannah sah, dass sie ihm die Achillessehne durchtrennt hatte. Entsetzt ließ sie das Messer fallen. Der Rote würde nie wieder gehen können, und der Blutverlust war vermutlich tödlich.
Es gelang ihm nicht, sich aufzurichten. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Er lag bäuchlings auf dem Boden, mit verzerrtem Gesicht, das zunehmend blasser wurde. Dann, ganz langsam, so als müsste er jeder einzelnen Faser seines Körpers befehlen, sichvorwärtszuziehen, kroch er erneut auf Hannah zu. Er stützte sich mit den Armen auf, als wollte er sich wie eine Schlange erheben und auf Hannah zuschießen. Aus der Wunde am Oberschenkel sickerte Blut, das die Hose dunkelrot durchtränkte. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Mit Augen, die ihm vor lauter Anstrengung aus den Höhlen zu quellen drohten, starrte er Hannah an. Er öffnete den Mund, blieb jedoch stumm, obwohl die Lippen seltsame Zuckungen vollführten. Sein Atem, der bislang keuchend gegangen war, begann zu pfeifen, dann riss er die Augen auf und sackte mit dem Gesicht voraus stöhnend in den Schmutz der Gasse.
Erstaunt betrachteten die beiden Frauen die rote Lache auf dem Boden und den wimmernden Kerl.
»Hannah!«, flüsterte die Schwarze Liss. »Du hast ihm ... du hast ihm einfach ...«
Hannah war noch nicht in der Lage, etwas zu sagen,
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