Fuerstin der Bettler
Augen zu. Doch die Bettlerin zog sie mit, und ihre Beine bewegten sich wie von selbst vorwärts.
Der Graben am Fischertor war trocken. Er lag zu hoch am Berg und konnte deshalb nicht mit Wasser gefüllt werden.
»Dort hinunter musst du selber klettern. Ich kann dir dabei nicht helfen«, sagte die Bettlerin.
Sie deutete auf eine Stelle nahe der alten Brücke. Schmale Trittstufen, die man ins Erdreich gegraben hatte, führten abwärts. Hannah blickte mit müdem Blick auf den Pfad, der hinunterführte, dann verlief er durch das fast mannshohe Gestrüpp. Schließlich stieg er auf der anderen Seite des Grabens wieder hinauf.
Der Graben hätte längst ausgeräumt werden müssen, um irgendwelche Angreifer zu behindern und das Legen von Feuer unmöglich zu machen. Doch der fruchtbare Boden, der durch allen möglichen Unrat genährt wurde, ließ das Unkraut wuchern. Hannah sah sogar den grünlichen Spiegel eines Tümpels, in dem sich Regenwasser sammelte, weil es nicht abfließen konnte.
Sie nickte und setzte sich auf die oberste Stufe und suchte mit dem Fuß Halt. Doch als sie den Fuß auf den nächsten Tritt setzte und sich vorbeugte, wurde sie von einem heftigen Schwindel erfasst. Die Tritte waren beinahe senkrecht in die Böschung eingegraben. Jede noch so kleine Unsicherheit würde sie straucheln und stürzen lassen.
»Ich kann nicht«, sagte sie heiser.
»Dreh dich um«, bestimmte die Schwarze Liss. »Du darfst nicht mit dem Gesicht voraus hinuntersteigen.« Dann hielt sie inne, mahlte mit den Kiefern und setzte hinzu: »Also gut. Ich geh voraus.«
»Ich kann nicht ...«, wimmerte Hannah.
»Du wirst können müssen, denn es ist die einzige Möglichkeit, dass du nicht aufs Rad geflochten wirst. Also zier dich nicht. Das können wir uns jetzt wirklich nicht leisten.«
Hannah verfluchte die Schwarze Liss. Die hatte doch keine Ahnung, wie es in ihr aussah und was sie hier durchmachte. Hannah sah der Schwarzen Liss nach, die sich rückwärts den Hang hinuntertastete, doch sie zögerte, ihr zu folgen. Sie würde keinen Schritt dort hinunter tun. Keinen Schritt, schwor sie sich!
Plötzlich hörte sie ein Hornsignal von der anderen Seite der Mauer. Dies wurde von anderen Hörnern beantwortet. Schließlich wurde die Glocke von Sankt Georg geläutet. Zuerst wunderte sich Hannah, was das zu bedeuten hatte, doch dann fuhr ihr die Erkenntnis durch die Brust wie ein Dolch: Man hatte den Roten gefunden.
Mit einem Mal waren alle Bedenken wie weggewischt. Das Gespenst des Rades, auf das sie geflochten werden konnte, und auf dem man ihr die Gliedmaßen brechen würde, stand ihr als Schreckensbild vor Augen – und es war allemal schrecklicher als der vielleicht dreißig Fuß tiefe Graben. Sie legte sich auf den Bauch, schob sich rückwärts an den Rand. Sie stellte ihre Füße auf die erste Stufe und tastete sich dann langsam Stufe für Stufe hinab. Hannah schloss die Augen, überließ sich ganz ihrem Tastsinn in Händen und Füßen und kam endlich unten an.
»Du kannst die Augen wieder aufmachen. Du hast es geschafft, Röttel«, sagte die Liss zufrieden.
Verlegen blickte Hannah nach oben und ihr wurde bewusst, in wie großer Gefahr sie gewesen war. Der Hang fiel fast senkrecht ab.
»Sie haben den Roten gefunden«, sagte Hannah.
»Ich weiß. Man wird sich wundern. Der Rote ist bei uns Bettlern eine wichtige Person.«
Hannah hob eine Augenbraue. »Warum? Er ist ein grobschlächtiger, brutaler Kerl gewesen.«
»Oh ja, das war er. Aber er hat bestimmt, wer wo betteln, wer welches Viertel betreten durfte oder verlassen musste. Er kassierte von allen, beschützte uns aber auch vor fremden Bettelhorden, die regelmäßig in die Stadt einfallen, und er hatte gute Beziehungen zum städtischen Rat.«
Die Schwarze Liss nahm Hannah bei der Hand und zog sie mit sich. Das Gestrüpp bedeckte den Pfad tatsächlich beinahe vollständig, sodass er von oben nicht einsehbar war. Links und rechts zweigten Pfade ab, die offenbar zu den anderen Auf- oder Abstiegen führten. Ein Labyrinth durchzog den Graben.
»Komm, nach links«, sagte die Liss und bog einfach ab. Der unter den Büschen versteckte Weg verlief schräg über den Graben und an dem kleinen Tümpel vorbei, den sie schon von oben gesehen hatte. Dessen Oberfläche schimmerte grünlich golden wie die Flügel der Goldkäfer. Ein herber Duft nach Haselsträuchern und Hainbuchen lag in der Luft – und dann war da etwas Süßliches ...
»Riechst du das?«, fragte Hannah die
Weitere Kostenlose Bücher