Fummelbunker
massenhaft Hetzkampagnen gegen jüdische Anwohner. Natürlich gibt es die Zeitung nicht mehr. Sie wurde nach Kriegsende eingestellt.« Er guckte mich an. »Kannst du mir so weit folgen?«
Ich nickte. »Woher zum Teufel weißt du das alles?«
Er zuckte mit den Schultern. »An der Uni wurden viele Vorträge zum NS-Journalismus gehalten. Das war zu meiner Zeit sehr populär. Heute wird das Thema an den Unis kaum noch behandelt, was wohl am mangelnden Interesse liegt. Ich halte das nicht unbedingt für schlecht. Meinetwegen können die Kanzlerin und der Außenminister noch in 50 Jahren ihre Kränze niederlegen, aber irgendwann muss mit der Aufarbeitung von NS-Spielzeug, NS-Gärten oder NS-Zeitungen Schluss sein.«
Ich winkte ab. So genau wollte ich es dann doch nicht wissen. »Okay. Meinetwegen. Erzähl weiter.«
»Vor ungefähr drei Jahren wurde der Westfälische Beobachter von einer Dortmunder Kameradschaft ins Leben gerufen. Boris sollte ihnen bei der Gründung unter die Arme greifen.«
Ich glotzte ihn an. »Warum gerade er?«
Olaf rammte den Schalthebel nach hinten und der Motor jaulte auf. »Ich hab mich mit ihm unterhalten, Esther. Und er hat mir alles erzählt. So, als würden wir über gute alte Zeiten reden, verstehst du?« Allmählich schien er aus der Fassung zu geraten. »Er vertraute mir. Er glaubte, ich würde es niemandem erzählen oder ihn anzeigen. Vielleicht dachte er sogar, ich würde ihm in diese Redaktion folgen.« Mein Bruder schüttelte den Kopf.
»Was hat er gesagt?«
»Er hat mir von früher erzählt.« Olaf ruderte den Wagen auf die linke Spur. »Von den guten alten Zeiten. Sein Vater ist Mitte 70, war in der Hitlerjugend. Sein Opa starb in den 80ern, hatte ihm viel erzählt. Vom Ersten Weltkrieg, als er noch ein Kind war. Und vom Zweiten Weltkrieg. Als Boris in der Pubertät war, gab es viel Streit um seinen Großvater. Sein Vater hatte sich von der NS-Zeit abgewandt und Boris rebellierte. Abends trug er Springerstiefel und Bomberjacke, hat sich aber niemals den Schädel rasiert. Nach dem Tod seines Opas hörte das nach und nach auf.«
»Aber er fing wieder damit an.«
»Er sagte, Schuld waren die Dotcom-Blase und seine Freundin. An der Spekulationsblase 2000 hatte er binnen drei Jahren sämtliche Ersparnisse verloren und seine Freundin war über Nacht mit seinen übrigen Kreditkarten abgehauen. Ich wusste, wovon er redete, denn ich habe es miterlebt. Er wurde depressiv, ernährte sich nur noch von Zigaretten und Alkohol. Seine Launen und Reizbarkeit waren eine Belastung für alle. Noch dazu begann er, Artikel gegen den Mainstream zu schreiben. Irgendwann musste der Chefredakteur die Reißleine ziehen und ihm das Dossier wegnehmen.«
»Du meinst also, er ist aus Frust in die NS-Redaktion gegangen?«
Olaf zögerte. »Er sagte mir, es ist einfacher zu hassen, als diese Niedergeschlagenheit zu ertragen. Die Arbeit lenkte ihn ab. Irrsinnigerweise ging es ihm danach wirklich besser und die Lage in der Redaktion entspannte sich.«
Ich sackte in meinem Sitz zusammen. »Ich kann nicht fassen, was du mir da erzählst.« Ich sah zu ihm herüber. »Warum hast du mir das nicht schon viel früher gesagt?«
Olaf starrte eisern durch die Windschutzscheibe, seine Finger hatten das Lenkrad fest umklammert. »Wahrscheinlich hatte ich Schiss davor, was du von mir halten würdest. Ich habe Boris ja quasi gedeckt. Und du weißt nicht, wie er war. Wie er vorher war. Hättest du von seiner Denke gewusst, hättest du wahrscheinlich nicht nach ihm suchen wollen.« Er schluckte. »Ich möchte, dass seine Familie ihn so in Erinnerung behält, wie er vorher war. Insbesondere sein Vater.«
Ich blinzelte. Erst jetzt fiel mir auf, dass Olaf von Boris in der Vergangenheit redete. Er schien meine Gedanken zu lesen.
»Er ist tot, nicht wahr?«, fragte er.
»Ich bin mir nicht sicher.«
Er nickte, als wüsste er bereits die Antwort, was mich nervös machte. Ich wollte nicht, dass er anfing, darüber zu spekulieren, wie Boris wohl gestorben sei oder ob er lange leiden musste. Ganz zu schweigen davon, ob ich wusste, wer für seinen Tod verantwortlich war.
Ich schielte zu ihm herüber. Sein Gesicht sah alles andere als redefreudig aus. Seine Heuschnupfennase schimmerte rot, seine Mundwinkel waren nach unten gezogen. Er blinzelte einige Male und als ich feststellte, dass er weinte, drehte ich schnell meinen Kopf wieder weg. Mein Gesicht blähte sich auf. Damit hatte ich bei aller Liebe nicht gerechnet.
»Also«,
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