Fundort Jannowitzbrücke
strahlt sie Passivität und vielleicht Naivität aus.«
Anna starrte auf die Stichworte, die mit bunten Filzstiften notiert worden waren. Sie verschwammen vor ihren Augen.
»An dieser Stelle kommen wir zu Ihnen, Frau Proschinski.« Herzberger stellte sich an das Flipchart. »Haben Sie ein Mädchen kennengelernt, auf das diese Beschreibung passen könnte? Gibt es im Burger Point eine Mitarbeiterin, die anstelle von Bettina sein Opfer hätte sein können? Ein
Mädchen, das vielleicht sogar auf seinem Heimweg über die Alexanderstraße fährt?«
»Ich weiß nicht«, sagte Anna schwach. »Ja. Vielleicht.«
»Versuchen Sie sich zu konzentrieren«, sagte Herzberger eindringlich. »Auf welches Mädchen könnte er es abgesehen haben?«
Anna glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. »Denken Sie denn, daß er auch ihr auflauern wird? Wird er es zu Ende bringen?«
Hauptkommissar Herzberger machte ein besorgtes Gesicht. »Wir müssen davon ausgehen.«
12
Michael ging hinunter und überquerte den Hof. Er hatte Feierabend machen wollen, nachdem alle Berichte geschrieben waren. Doch ein neuer Einsatz war dazwischengekommen.
Wolfgang hatte ein Ermittlungsteam im Burger Point eingesetzt. Es sollte die Mädchen befragen und dafür sorgen, daß sie nicht alleine nach Hause gingen. Einer der Beamten hatte sich den Magen verdorben, und Michael sollte ihn nun ablösen.
Kein Wunder bei so einem Einsatz, dachte er mißmutig. Vor lauter Langeweile hatte sich der Kollege bestimmt mit dem grauenhaften Essen dort vollgestopft.
Michael ging über den Hof, öffnete das Auto und warf seinen Mantel auf den Beifahrersitz. Das Handy rutschte dabei aus der Tasche und fiel unter den Vordersitz.
Er hob es auf und hielt es in der Hand. Die Zeitschaltung der Hofbeleuchtung knackte. Es wurde dunkel um ihn herum. Er atmete durch, dann drückte er die Taste.
Elisabeths Stimme war klar und bestimmt. »Held.«
Er zögerte. »Ich bin’s«, sagte er leise. »Es tut mir leid wegen neulich.«
Sie schwieg. Er fragte sich, ob sie wortlos wieder einhängen würde.
»Ich soll darüber einen Artikel bringen?« sagte sie statt dessen.
Elisabeth konnte nicht frei sprechen. Es war noch jemand anderes im Raum.
»Worum geht es denn in dem Stück?« fragte sie weiter.
Michael lehnte sich im Dunkel des Wageninneren zurück. Er schloß die Augen und gab sich seinen Gedanken hin. Er wollte darauf eingehen.
»Es geht um die Geschichte eines Kriminalkommissars, der ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hat. Ich weiß nicht, ob Sie daran interessiert sind.«
»Ich glaube, ich habe bereits davon gehört«, sagte Elisabeth. »Es ist aber eine sehr traurige Geschichte, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Über traurige Stücke schreibe ich im Grunde gar nicht. Das machen Kollegen.«
»Vielleicht überlegst du es dir. Das Leben schreibt nämlich meistens traurige Geschichten. Viele wissen das bloß nicht.«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie. »Worum geht es denn konkret?«
Michael schaute in die Nacht hinaus. »In der Geschichte hat sich der Kommissar in die Frau verliebt. Du mußt wissen, daß ihm so etwas nicht häufig in seinem Leben passiert. Das Gefühl ist ganz neu, und er hat Angst davor. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll.«
Elisabeth sagte etwas zu einer Arbeitskollegin. Offenbar war sie in der Redaktion. Es dauerte ein wenig, doch dann wandte sie sich ihm wieder zu.
»Der Autor klärt die Zuschauer nicht darüber auf, weshalb die Figur eine solche Angst hat. Verhält die Figur sich überhaupt logisch?«
Michael wußte, daß dies nicht der richtige Moment war. Er mußte zu einem Einsatz, und überdies konnte Elisabeth nicht frei sprechen.
Und dennoch. Wenn er es ihr jetzt nicht sagte, dann würde er es wahrscheinlich niemals tun.
»Er hat Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Davor hat er mehr Angst als vor allem anderen auf der Welt.«
»Aber weshalb? Was könnte der Figur denn passieren?«
»Die ganze Welt könnte aus den Fugen geraten. Niemand paßt auf ihn auf, wenn er es selbst nicht tut. Niemand wird ihn auffangen, wenn er fällt. Wenn er die Kontrolle verliert, dann wird das seinen Tod bedeuten.«
Elisabeth schwieg am anderen Ende der Leitung. »Was ist denn mit der Frau?« fragte sie schließlich. »Ist sie nur eine Statistin?«
»Sie liebt ihren Mann und die Kinder. Mehr als ihr eigenes Leben.« Michael schloß die Augen. »Sie wird nicht dasein, wenn er seinen Halt verliert. Sie wird es nicht einmal erfahren,
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