Fundort Jannowitzbrücke
meldest. Wo bist du denn?«
»Ich bin unterwegs. Ich wollte nur wissen, wie es dir geht.«
Wieder hatte sie dieses Gefühl. Als wäre es das letzte Mal, daß sie mit ihrer Mutter sprach.
»Es geht mir gut«, sagte Irmgard Nowack. »Seit unserem Gespräch geht es mir besser. Ich habe mir heute sogar alte Fotos angesehen. Wir waren mit der ganzen Familie auf Hiddensee. Kannst du dich noch daran erinnern?«
Barbara spürte, wie sich ihre Kehle zuzog. »Aber ja. Natürlich kann ich das.«
»Die Ferienwohnung war zu klein, das war vielleicht eine Aufregung. Du und Bettina, ihr habt dann ganz allein in einem Pensionszimmer geschlafen, weißt du noch? Bettina hatte Angst in dem großen Haus mit der ruppigen Wirtin. Aber du hast sie an die Hand genommen und ihr gesagt, daß nichts passieren kann.«
»Ich hatte selbst ein bißchen Angst«, sagte Barbara. »Ich wollte es mir nur nicht eingestehen.«
»Ja, das stimmt.« Ihre Mutter lachte traurig. »So bist du schon immer gewesen.«
Barbara erinnerte sich an das große Zimmer und an den würzigen Duft, der von der See heraufzog und alles ausfüllte.
»Ich habe Bettina gesagt, sie soll bei mir im Bett schlafen«, sagte sie. »Wenn sie ganz bei mir in der Nähe ist, habe ich gesagt, dann kann ihr nichts passieren.« Sie mußte darüber lächeln. »Sie hat mir völlig vertraut. Die ganze Nacht hat sie ruhig und friedlich in meinem Arm geschlafen. Sie hatte keine Ahnung davon, daß ich vor Angst kein Auge zugetan habe.«
Irmgard Nowack lachte wieder. »Sie hat dich immer sehr bewundert.«
Barbara wußte, daß das nicht stimmte.
»Auch am Ende«, fügte ihre Mutter hinzu. »Ihr wart sehr unterschiedlich und habt es nicht immer geschafft, miteinander zu reden. Doch bewundert hat sie dich stets.«
Ich wünschte, ich könnte das glauben, dachte Barbara.
»Wir hätten mehr miteinander reden sollen«, sagte sie laut.
Ihre Mutter schwieg am anderen Ende der Leitung.
»Es ist schön, daß wir miteinander reden«, fuhr Barbara fort. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Sie mußte das Telefonat zu Ende führen. Sie mußte ihrer Mutter das Wichtigste sagen, bevor sie sich auf den Weg machte.
»Danke für alles. Ich bin sehr froh, daß wir wieder zueinander gefunden haben.«
»Barbara ...« In Irmgard Nowacks Stimme lag plötzliche Sorge. »Ist etwas passiert?«
»Nein«, sagte sie schnell. »Ich bin nur müde. Es wird Zeit, daß ich nach Hause komme.«
»Brauchst du Hilfe?« fragte ihre Mutter. »Möchtest du, daß ich komme?«
»Alles ist gut«, sagte sie. »Ich brauche jetzt nur Schlaf. Wir reden morgen weiter, Mutter. Gute Nacht.«
Sie beendete das Gespräch. Die Angst ist unnötig, beruhigte sie sich. Sie würde ihren Plan zu Ende bringen, und kein Mörder dieser Welt würde sie davon abhalten können.
Sie trank ihren Wein. Es war Zeit zu gehen. Jetzt mußte sie nur noch eines erledigen, ehe sie sich auf den Weg zu dem Mörder machen konnte.
Barbara hatte Marias Nummer noch immer in ihrem Handy eingespeichert. Sie hatte sich nie dazu überwinden können, sie zu löschen. Nun suchte sie ihren Namen und drückte die Wahltaste. Maria war die einzige, die sie wirklich kannte, trotz allem, was mit ihrer Liebe geschehen war. Sie war die einzige, die zu ihr halten würde, da war sie sich ganz sicher. In der Leitung rauschte es, dann hörte sie das Freizeichen am anderen Ende.
Die Nacht senkte sich unaufhaltsam auf die Stadt herab. Die Laternen flammten auf, und am Himmel verschwand das letzte Licht der Dämmerung. Die Straßen waren voller Menschen. Der erwachende Frühling verwandelte die Stadt in einen einzigen Jahrmarkt.
Michael fuhr langsam mit seinem Wagen die Straßen hinunter. Ziellos kurvte er umher und wußte nicht, was er mit diesem verheißungsvoll wirkenden Abend anstellen sollte. Nachdem sie Olaf Nowack nach Hause geschickt hatten, wollte er nur noch Feierabend machen und sich mit einem Bier vor den Fernseher legen. Doch nun lockte überall das Leben, und er wußte nicht, wie er es festhalten sollte.
Er gehörte nicht zu den Teams, die am morgigen Sonntag arbeiten würden. Das machte es nur noch schlimmer. Am Alexanderplatz blieb er eine Weile stehen und beobachtete die Jugendlichen, die am Brunnen saßen. Ihre Körper waren angespannt, sie trieben Späße und warteten aufgeregt auf das Nachtleben, das ihnen bevorstand.
Michael sah ihnen zu, bis er beschloß, nach Hause zu fahren. Er bog in die
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