Funkensommer
abgeklungen sein und Raphael konnte wieder zur Arbeit fahren. Erleichtert will ich die Tür schließen, da bleibt mein Blick an etwas hängen. Etwas, das auf seinem Nachttisch liegt. Ob ich nachschauen soll? Wenn Raphael merkt, dass ich in seinem Zimmer herumgeschnüffelt habe, dreht er garantiert durch. Nicht einmal Mama darf in sein Zimmer. Okay, manchmal schon. Aber nur zum Aufräumen. Ansonsten ist seine Bude Sperrgebiet. Ich lausche in die Stille. Nichts regt sich im Haus. Nur draußen auf dem Vorplatz hört man das beständige Tuckern des Traktors. Neugierig gebe ich mir einen Ruck. Auf Zehenspitzen gehe ich ins Zimmer und knipse die kleine Nachttischlampe an, weil die Vorhänge zugezogen sind, damit die Nachmittagshitze draußen bleibt. Auf dem Schreibtisch, neben seinen Epi-Blockern und ein paar grünlichen Tabletten, steht eine angefangene Tequilaflasche. Sie ist fast leer. Eine Zigarettenschachtel liegt daneben. Ich hab gar nicht gewusst, dass mein Bruder nun auch noch zu rauchen angefangen hat. Dass er säuft wie ein Stier, weiß ich. Die Alkoholfahne, die ihn gelegentlich umweht, lässt sich nicht verbergen. Aber dass er jetzt auch noch qualmt? Und das alles in Kombination mit den Medikamenten gegen die Epilepsie?! Wie blöd ist der eigentlich? Glaubt er, dass er so seine Allergie los wird? Aber vielleicht mag er das ja auch gar nicht? So kann er wenigstens machen, was er will, ohne ständig an den Hof gekettet zu sein! Ich will wieder verschwinden, da fällt mir ein, dass ich ja noch etwas nachschauen wollte. Leise tapse ich auf den Nachttisch zu. Die Bauernzeitung liegt obenauf. Darunter – gut versteckt … ieeeehhh … eine Tittenzeitschrift. Daneben Aftershave und Kaugummi. Darunter … deswegen bin ich eigentlich hier … eine Ecke von einem Foto. Gut versteckt unter seinem Krempel. Genau deshalb hat mich das ja auch neugierig gemacht. Vorsichtig zupfe ich daran. Als ich die Hälfte des Fotos unter dem Zeitschriftenstapel hervorgezogen habe, lacht mich … Jelly an. Dann mein Bruder. Überrascht ziehe ich weiter. Sebi und Manuel, seine besten Kumpel rücken mit aufs Bild. Die vier lachen unbekümmert in die Kamera. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann das gewesen sein soll … Auf alle Fälle muss die Aufnahme mindestens ein Jahr alt sein, weil Raphael da noch die gebleichten Strähnchen hat. Fast strahlen sie im Blitzlicht der Kamera. Wie Raphael. Langsam lasse ich das Bild sinken. Ich habe meinen Bruder schon ewig nicht mehr so lächeln gesehen. Jedenfalls seit dem epileptischen Anfall nicht mehr. Ich weiß noch, wie Jelly mich damals bearbeitet hat, ihr doch zu erlauben, meine Haare zu färben. Sie brauchte Übung für die Berufsschule, erklärte sie mir mit spitzbübischem Lächeln, samt gierigem Blick auf meine Naturmähne. Aber auf blonde Strähnchen hatte ich überhaupt keine Lust. Damals genauso wenig wie heute. Als wir uns deswegen gestritten haben, bot sich auf einmal Raphael überraschenderweise an, das Versuchskaninchen zu mimen. In der Zeit sind wir noch häufig gemeinsam unterwegs gewesen. Sind oft mit seiner Cligue zum Jungfrauenfelsen geradelt. Oder ins Kino gefahren. Oder haben uns zum Eisessen getroffen. Und obwohl er mich auch früher als seine kleine Schwester häufig geärgert hat, haben wir uns die meiste Zeit gut verstanden. Irgendwie hatte einfach jeder seinen Platz. Er war der Große, ich die Kleine.
Danach aber wurde alles anders. Nach dem Krankenhausaufenthalt verkroch sich Raphael in sich selbst, ging kaum aus. Nur mit seinen Freunden traf er sich manchmal – aber auch nur, wenn Sebi und Manuel ihn dazu drängten. Als irgendwann klar wurde, dass die Allergie kein kurzzeitiges Aufflammen infolge des Anfalls war und nicht so schnell verschwinden würde, wie sie aufgetreten war, tat sich ein Abgrund zwischen uns auf. Anfangs schleichend. Später immer deutlicher, je mehr ich seinen Part auf dem Hof übernehmen musste …
Jedenfalls kann ich mich noch gut daran erinnern, wie Raphael eines Abends mit schrecklich weißen Strähnchen nach Hause kam. Seine Haare waren so bleich, dass man hätte glauben können, er sei über Nacht gealtert. Mama und Papa regten sich fürchterlich auf. Ich lachte. Nur Raphael blieb erstaunlich ruhig und meinte, dass man halt alles erst einmal lernen müsse, auch Jellena! Das war kurz vor dem Anfall gewesen …
Gedankenversunken stecke ich das Foto wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück. Das näher kommende Traktortuckern holt
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