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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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und leide sehr darunter. Er lebt in derselben Stadt wie sie und ist dennoch nicht greifbar. Die Funkstille akzeptieren mag und kann die Mutter nicht, auch weil sie weiß, dass ihr Sohn eigentlich Hilfe benötigt. Er hatte als Kind einen schweren Autounfall und gilt seitdem als schwerbehindert. Ihr Rico sei ein intelligenter Junge, sagt mir die Mutter. Intellektuell sei er ihr manchmal sogar überlegen, emotional aber schwer greifbar. Manchmal komme er ihr fast schon autistisch vor. Mit dem Unfall habe ihr Sohn sich nie abfinden können. Sie kenne seine Not und habe sich schon gefragt, ob er nicht fachliche Hilfe bräuchte. Immer wieder fragt sie aber auch sich selbst: An welchem Punkt habe ich versagt? Warum können wir nicht mehr vernünftig miteinander reden? Wenn mein Kind sich in der Welt nicht zurechtfindet, ist es doch meine Schuld, oder?
    Die Schuldfrage treibt die Verlassenen um und bringt sie fast um den Verstand.»Einsamkeit kann man ertragen, aber nicht das Gefühl der Verlassenheit«, meint Stephan, ein Kollege von mir. Er erzählt mir, dass seine Freundin Marie ihn von dem einen auf den anderen Tag verlassen hat. Am Abend vor Maries Weggang waren sie noch bei Freunden eingeladen gewesen, alles schien in Ordnung zu sein. Sie hatten miteinander gelacht, sich Geschichten erzählt, Wein getrunken. Es war doch ein schöner Abend gewesen, erzählt er und schaut mich ungläubig an. Wie hätte er ahnen können, dass sie am nächsten Tag aus seinem Leben, ihrem gemeinsamen Leben, verschwinden würde? Stephan hat Angst: Angst, dass der Schmerz ihn nie mehr verlässt. Angst, dass er nur noch in den Erinnerungen leben wird. Das Leben mit der geliebten Person ist vorbei. Er ist von seinem Leben mit ihr abgeschnitten, so, als ob sie gestorben wäre. Aus Stephans Blick spricht Verzweiflung, das vollkommene und begründete Fehlen jeder Hoffnung. Ich versuche ihn zu beruhigen, spreche von einem neuen Anfang und davon, dass Marie vielleicht ja doch wieder zurückkommt. Stephan hört kaum zu, will keine Zukunft hinnehmen, in der Marie fehlt.
    Von mir will er nur wissen, wie die anderen »Funkstille-Dramen«, wie er sie nennt, ausgegangen sind. »Haben die Leute wieder zueinandergefunden?«, fragt er nun schon zum x-ten Mal. Wenn er und Marie sich normal getrennt hätten, wenn Marie nach intensiven Gesprächen festgestellt hätte, dass es für sie so nicht mehr gehe, wäre alles anders gewesen. Er hätte sich doch ändern können, meint Stephan, hätte es zumindest versucht. Diese Entwicklung wurde ihm aber aufgezwungen. Marie gab ihm keine Möglichkeit, Teil des Trennungsprozesses zu sein, ließ ihn nicht mitspielen, als ob seine Meinung, seine Gefühle gar nicht zählten. »Gemein« sei das, findet Stephan. »Was ich denke, fühle, wahrnehme, hat sie offenbar gar nicht mehr interessiert.«
    Jeder Gegenstand in der liebevoll eingerichteten Wohnung erinnert ihn an sie. Vor einem Jahr waren sie erst zusammengezogen, wollten Kinder haben, er zumindest. »Ihr Kaffeebecher!«, sagt Stephan plötzlich leise und reicht ihn mir. Die Rache der Dinge, denke ich. Kein eigenes, aber ein beharrliches Leben haben sie. Das Netz gemeinsamer Erinnerungen – Stephan ist darin gefangen und maßlos wütend darüber. Ich gebe zu bedenken, dass seine Freundin vielleicht nicht anders konnte, diesen Schritt nie hätte machen können, wenn Stephan ihr gegenübergesessen hätte, sich nicht hätte erklären können, weil sie ihn nicht verletzen und sich selbst nicht verunsichern wollte. Vielleicht wollte sie ihn gar schützen.
    Dass Stephan das anders sieht, hätte ich mir denken können. »Desertiert ist sie. Weggelaufen, abgehauen, hat sich aus dem Staub gemacht. Wahrscheinlich hat sie einen Neuen, und ihr geht es prächtig, während ich mir hier das Hirn zermartere, was ich wohl falsch gemacht habe«, wirft er schließlich aufgebracht ins Gespräch ein. Pause. Nach einer Weile beginnt er traurig weiterzusprechen: »Wahrscheinlich habe ich mich einfach nur in ihr getäuscht. Besser, ich erfahre es jetzt als später.« Vielleicht war Marie von Anfang an sein Unglück, das sich nur als großes Glück getarnt hatte, überlegt er.
    Bei einem zweiten Besuch wird klar, dass nicht alles so rosarot war, wie Stephan es rückblickend gerne sehen würde. Es gab Probleme, sogar grundlegende. Es ging um Geld, die Arbeit, Kinder. »Aber geht es darum nicht in allen Beziehungen?«, fragt mich Stephan. »Warst du glücklich in der Beziehung?« frage ich zurück.

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