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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Stephan schweigt. Schließlich wirft er nur ein Wort in dieses Schweigen. »Nein!«
    Der Verlassene – das Opfer?
    Ist also der Verlassene eher schwach und feige und der Abbrecher der Mutigere? Die Frage wird dem Psychoanalytiker gestellt. Hat Stephan die Funkstille provoziert? Udo Rauchfleisch: »Alles hängt damit zusammen, dass er sich offenbar sehr gebunden an den anderen fühlt, abhängig, vielleicht auch finanziell, aber vor allem emotional. Er bringt es nicht fertig zu sagen: Ich gehe jetzt. Dann bleibt ja nur noch die Möglichkeit, dass der andere geht. Starke Abhängigkeit prädestiniert gleichermaßen dazu, verlassen zu werden wie zu verlassen. Derjenige, der verlässt, fühlt sich ja im Grunde genommen ebenfalls schutzlos und sehr gebunden, sonst könnte er sich ja leicht erklären und danach gehen.«
    Zurück zu Ute. Von ihrem Vorhaben, ihre Schwester endgültig loszulassen und die Vergangenheit ruhen zu lassen, ist nicht viel übrig geblieben. Sie kann und will noch nicht aufgeben. Bevor sie mit ihrer Tochter Annika in den Urlaub nach Las Vegas fliegt, schreibt sie ihrer Schwester einen Brief. »Vielleicht musste sie den Überfall erst einmal verdauen und weiß jetzt nur nicht, wie sie aus dem Schlamassel rauskommen soll, ohne das Gesicht zu verlieren«, meint Ute. Warum entschuldigt sie eigentlich immer wieder das Verhalten der Schwester?, überlege ich. Ute erklärt weiter, dass es natürlich nicht sehr einfühlsam gewesen sei, Claudia zu überfallen. Es sei Claudias Zuhause gewesen, ihr Rückzugsgebiet, ihr Schutzraum, und sie sei da einfach eingebrochen, ungefragt.
    Wird Ute je aufhören, sich über ihre Schwester und das Geschehene das Hirn zu zermartern?, überlegen Annika und auch wir, das Filmteam. Gleichzeitig ahnen wir, dass Ute, wenn sie es zulässt, die Knoten in ihrer Beziehung zu Claudia finden würde. Gegeben haben muss es sie.
    Die »Knoten« in den Beziehungen
    Es ist auffällig, dass die Verlassenen sich kaum Gedanken darüber machen, wie die Situation vor dem Kontaktabbruch war. Als Außenstehender hingegen fragt man sich unwillkürlich: Wie war das denn vorher? Warum und wieso haben die Betroffenen nicht gemerkt, was sich da anbahnt? Worin bestand konkret die Verletzung, die den Kontaktabbruch auslöste? Was war es, das man sich nicht zu sagen traute? Wie es scheint, fehlte vor der Funkstille das Gefühl dafür, was konkret verletzt hat oder wie sehr etwas verletzt hat. Lebensbestimmende Erfahrungen können von leiser Art sein. Sie bleiben in dem Augenblick, in dem sie gemacht werden, vielleicht fast unbemerkt. Erst nach und nach entfalten sie ihre grundstürzende Wirkung – und genau darin liegt ihre Brutalität.
    Was besagt es, wenn Lisa-Maria W. einräumt, dass sie zu ihrem Sohn hätte liebevoller sein müssen? Hat sie nicht getan, was sie konnte? Und Ute? War sie für Claudia in der Trauer um ihre tote Tochter vielleicht doch keine ausreichende Stütze gewesen? Immerhin hatte sie sich zu jener Zeit um die eigene Familie zu kümmern und um die Gärtnerei ihres Mannes. Wie war es für Claudia, jeden Tag die »glückliche« Familie der Schwester zu sehen, ihre gesunden Kinder? Krisen sind fast immer Konfliktkrisen, d.h. Situationen, in denen es im zwischenmenschlichen Bereich zu scheinbar unlösbaren Problemen gekommen ist. Trennungen spielen dabei eine große Rolle – sowohl die akuten als auch die befürchteten, die vorausgeahnten, aber auch die vergangenen und nicht verarbeiteten Trennungen. Die Verzweiflung, die daraus entsteht, entspringt einer erlebten Verstümmelung des Ich, einem massiven Angriff auf das Selbstwertgefühl, einem Aufwachen aus dem Traum immerwährender Verbundenheit mit dem anderen.
    Es ist zu vermuten, dass bei den hier geschilderten Kontaktabbrüchen der Verlassene Täter und Opfer zugleich ist, ebenso wie der Abbrecher. Von den Fragen, die die Verlassenen sich stellen, lassen sich einige beantworten, wenn wir mehr über die Abbrecher wissen.

Zweites Kapitel
    Die Abbrecher
    »Das war ein wahrer Vernichtungskrieg«
    »Damals, mit Anfang 20, hatte ich eine vollkommen neurotische und extrem symbiotische Beziehung zu meiner Mutter. Ich war eigentlich immer mit ihr zusammen, völlig unselbständig und abhängig von ihr. Heute weiß ich, dass sie nicht wollte, dass aus mir ein potenter Mann wird«, beginnt Jan seine Geschichte. Diesmal ist der Befragte bei mir zu Gast. Bei ihm zu Hause sind Frau und Kind, für ein intimes Gespräch ist es dort zu unruhig.

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