Funkstille
Bruch, nach der Trennung von meinem Vater«, so Jan, der endlich wieder einen Bissen isst. So kann ich ein paar Fragen einschieben, die gedanklich schon formuliert sind. Hat nicht seine Mutter ihm alle Liebe gegeben, hat sie ihn nicht behütet und verwöhnt? Wo war der Vater nach der Trennung? Hätte die Mutter Jan zu Geiz und Kleingeistigkeit erziehen sollen? Und war es nicht im Gegenteil eher so, dass sie ihn losließ, als sie ihm nahelegte, sich als Student eine eigene Wohnung zu suchen? Kurz: Worüber beschwert Jan sich eigentlich? Was ist sein Problem?
Seine Antwort klingt widersprüchlich: »Ich habe mir einmal zu Weihnachten ein wichtiges Buch für mein Politikstudium gewünscht, und da hat sie zu mir gesagt: Wieso braucht ein Student Bücher? Als es um meine Ausbildung ging, hat sie geblockt, und da ist in mir so ganz langsam die Wut aufgestiegen, ein ohnmächtiger, richtungsloser Hass. Ich habe intuitiv gemerkt, sie lässt nicht zu, dass ich mich entwickle. Ich hätte meine Mutter damals umbringen können.« Jan redet sich in Rage, der Appetit wird größer. Die ganze kindliche Wut ist wieder da, die Enttäuschung über das Verhalten der Mutter und die eigene Ohnmacht. Die Ereignisse, von denen er spricht, sind über 20 Jahre her! Jetzt scheint alles so präsent, als sei es gestern gewesen. Ich habe den Eindruck, dass Jan sich mit seinen Gedanken im Kreis dreht, dass sich nichts weiterentwickelt. »Sie hat mein ganzes Leben versaut. Nach außen hin war sie die glorreiche und schillernde Mutter, aber sie hat komplett versagt«, entgegnet er meinem fragenden Blick.
Jan ist 43 Jahre alt, zum zweiten Mal verheiratet und Vater eines Kindes. Ist er nicht selbst verantwortlich für sein Leben – seit mindestens 20 Jahren schon? Und machen nicht alle Eltern Fehler? Auch Eltern haben eine Biografie und sind, wie sie eben sind, weil sie von nahestehenden Menschen beeinflusst und geprägt wurden. Jan merkt, dass es für mich nicht einfach ist, ihm in seiner Radikalität zu folgen. Er gießt Wein nach, ringt darum, verstanden zu werden, wieder einmal. Dann wird er konkreter: »Meine Mutter hat mir immer klar gemacht: Werde kein Mann. Ich war ihr Lebensgefährte. Wir haben zusammen in ihrem Ehebett geschlafen, sie hat in mir ein Schmusetierchen gesehen. Seelisch war ich Partnerersatz. Wir machten, wie zugegebenermaßen alle anderen Leute zu dieser Zeit auch, FKK . So eine Scheiße. Diese ganzen Leute, die 68-er, haben überhaupt keine Ahnung, was sie da anrichten. Das alles wäre vielleicht nicht ganz so schlimm gewesen, wenn mein Vater dagewesen wäre.«
Er war aber nicht da und kümmerte sich kein Stück um seinen Sohn, warum ist Jan nicht auf ihn wütend? »Meine Mutter hat vieles abgekriegt, sie war gar nicht immer schuld, aber so ist das auch im Krieg, es sterben immer auch Unschuldige.« Jan geht gar nicht auf den Vater ein. Es gab und gibt keine Nähe zu ihm. Der Vater hat ihn zweimal im Jahr gesehen. Das war’s. Von ihm musste Jan sich nicht befreien, glaubt er. Da sei nichts gewesen. Ich bezweifle das. Das Desinteresse des Vaters, sein Schweigen, muss auch zutiefst verletzend gewesen sein. Vielleicht musste sich Jan von diesem »Nichts« befreien. Diesem Vakuum, das entstand, weil der Vater nicht für ihn da war. Ich denke an die Schilderungen der Verlassenen, die beweisen, dass das Ignoriert-Werden tiefen seelischen Schmerz bereitet. Und: Hasste Jan seine Mutter wirklich oder liebte er sie nicht vielleicht sogar zu sehr?, will ich dann doch nach der ersten Flasche Wein wissen. Jan öffnet die nächste.
»Als ich meine erste Frau kennenlernte, habe ich ihr gesagt: Ich liebe dich, ich werde dich heiraten, aber die Nummer eins ist meine Mutter.« Mit der Beziehung zu seiner ersten ernsthaften Freundin und späteren Frau ging der Kampf erst richtig los, berichtet er. Seine Mutter habe die Freundin gehasst, weil sie unabhängig und selbständig war, glaubt Jan und erklärt: »Als ich zu Lara zog, fing mein Leben an, und gleichzeitig hasste ich meine Mutter immer mehr. Ich habe verstanden, dass sie mein Leben zerstört hatte. Hätte es nur an mir gelegen, dann hätte mich ein sicheres und klares Elternhaus schon aufgefangen. Wenn aber das Elternhaus selbst neurotisch und pervers ist, dann geht natürlich alles schief.«
Jeder Satz ein Faustschlag.
Wenn man Jan betrachtet, traut man ihm solche Attacken kaum zu. Er sieht eher aus wie eine Mischung aus Sonnyboy und Deutschlehrer – blonde Haare, blaue Augen,
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