Funkstille
Außerdem ist Jan ein Freund. Er steht Punkt acht Uhr abends vor der Tür, dem Anlass gebührend herausgeputzt – Jacke, helle Hose, Polohemd – mit einem prall gefüllten Rucksack über der Schulter. Darin Baguette, Wein und Käse. Ich muss lächeln, und Jan schaut zu dem Tisch, an dem wir unser Gespräch führen wollen.
Längst ist der französische Käse ausgepackt, das Baguette wartet auf den Brie und der Rotwein atmet. Jan wirkt aufgeräumt und klar, weniger aufgekratzt als sonst, weniger gehetzt, mehr er selbst. Vor Jahren hatte er mir während eines langen Spaziergangs am Main seine Geschichte erzählt und auch ganz offen von seiner acht Jahre währenden Psychoanalyse berichtet sowie von den daraus gewonnenen Erkenntnissen. Wir kannten uns nicht besonders gut. Jan und ich sind Mitglied im gleichen Netzwerk und hatten bis dahin nur einige Male kurz miteinander gesprochen. Er trug meist ein wenig zu dick auf, und ich war nicht so sicher, was ich von ihm halten sollte. Nicht ohne Stolz hatte er bis dahin immer wieder verkündet, dass seine Mutter ein ehemaliges Model sei und der Vater einst als Waffenhändler sein Geld verdiente. Er selbst sei in seiner Jugend mit dem Privatjet in die Ferien geflogen, habe mal an der Cote d’Azur, mal in St. Lucia in der Karibik gelebt. Jan ist weltgewandt und spricht mehrere Sprachen. Für sein Umfeld klangen seine Schilderungen nicht unbedingt nach einer schrecklichen Kindheit und Jugend.
Schon damals, während des langen Spaziergangs, fiel mir auf, wie offen und schonungslos Jan über seine Gefühle und seelischen Schmerzen berichtete. Ich stellte ihm damals keine Fragen, er erzählte fast ohne Pause, als sei ein Damm gebrochen. In der Art, wie er sprach, war immer ein Drängen spürbar, als könne er vielleicht mit dem, was er zu sagen habe, nicht fertig werden.
Es war dieses Gespräch, das mich vier Jahre später noch einmal auf ihn zukommen ließ. So sitzen wir nun bei mir am Tisch, und Jan erzählt seine Geschichte noch einmal, aber genauer und noch schonungsloser. Ohne Umschweife kommt er nach dem ersten Bissen und dem ersten Schluck Wein direkt zum Thema: »Ich merkte: Mein Leben ist ein Haufen Mist, deshalb bin ich auch auf die Couch gegangen.« Damit sei ja eigentlich schon alles gesagt, meine ich, aber schon im nächsten Moment beginnt Jan zu erklären, welche Grundkonflikte sein Leben »versaut« hätten: »Meine Mutter trennte sich von meinem Vater, als ich zwölf Jahre alt war. Das war ein Riesenschock. Dann habe ich mit meiner Mutter eine neue Wohnung bezogen. Sie hatte verschiedene Männer. Ich lebte in den Tag hinein, und sie hat meine Tagträumerei unterstützt. Mit Geld konnte ich überhaupt nicht umgehen, sie hatte es mir einfach nicht beigebracht. Mein Onkel hatte mir einmal Geld geschenkt, das ich sofort in einen Flugschein investieren wollte. Sie fand, das sei eine prima Idee. Hätte ich es nicht eher für mein Studium, Bücher oder Bildungsreisen nutzen sollen?«, fragt er.
Ich kann auch nach diesem Schnelldurchlauf nicht nachempfinden, warum die Mutter alles falsch gemacht haben soll. Auch andere Eltern trennen sich, und wenn sie ihn nicht autoritär erzogen habe, sei das doch nicht unbedingt falsch, werfe ich ein. »Doch«, insistiert Jan, »ich war völlig unselbständig, wir wohnten zusammen, selbst die Klamotten hat sie mir ausgesucht und gekauft. Sie aber fand das gut, und ich habe ihren Wahnsinn, wie in einer Sekte, für bare Münze genommen.« Hat seine Mutter nicht einfach nur für ihn gesorgt? Jan nimmt einen Schluck Wein, stellt ein vehementes »Nein« in den Raum und legt nach: »Ich hatte eine Mutter, die behandlungsbedürftig gewesen wäre, und einen Vater, der einen kompletten Schuss hat. Es gab keine Geborgenheit und keine Liebe, höchstens Bruchstücke davon. Und sie konnte mir kein Gottvertrauen vermitteln.«
Harte Worte. Hatte die Mutter ihren Sohn nicht so gut erzogen wie möglich? War er nicht irgendwann alt genug zu rebellieren, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, Klamotten zu kaufen, die er mochte, sein Zimmer schwarz anzustreichen? Jan hätte arbeiten, sich eine Wohnung suchen können. Die Vermutung liegt nahe, dass er dazu einfach zu bequem war. Und tatsächlich war er erbost, als seine Mutter ihm mit Anfang 20 nahelegte, sich eine eigene Wohnung zu suchen. »Sie hat mich rausgeschmissen! Ich war 20 und studierte Politik. Ich habe damals absolut nicht verstanden, warum ich ausziehen sollte. Das war der zweite große
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