Funkstille
Abbrecher nicht? Das fragt sich meine Freundin Vicky, die nach drei Jahren inniger Beziehung plötzlich nichts mehr von ihrem griechischen Freund hörte, immer wieder. Auch sie ahnt, wie sehr es möglicherweise am Selbstbild ihres Freundes genagt haben muss, dass sie die erfolgreiche Karrierefrau war, während er als Kellner von einem eigenen Restaurant bislang nur träumen konnte. Die selbst empfundene Erfolglosigkeit musste seinen Stolz verletzt haben. Für Vicky jedoch war er nicht klein, erfolglos oder weniger kraftvoll als andere. Seine eifersüchtige Vermutung, sie würde ihm andere, erfolgreichere Männer vorziehen, bekommt aus der Perspektive einer möglichen Beschämung eine andere Tragweite. Die Funkstille gab ihm wenigstens den Anschein, der Starke sein zu können, der sich für nichts schämen muss.
Für die Funkstille kann es also verschiedene Motive geben. Auf jeden Fall aber sind es existentielle Gefühle, die zu dem plötzlichen Kontaktabbruch führen. Dass dabei die Biografie der unmittelbar Betroffenen, aber auch ihrer Eltern und Großeltern eine Rolle spielt, werden wir im nächsten Kapitel sehen.
Fünftes Kapitel
Biografische Fragmente
»Warum bin ich so geworden, wie ich bin?«
Ich spreche hier von »biografischen Fragmenten«, weil die Thematik der Funkstille naturgemäß keine vollständige Biografie aufbieten kann. Das trifft insbesondere für die Abbrecher zu, deren besondere Position in einem eigenen Abschnitt zur Sprache kommen soll. Die im Folgenden erzählten Familienbiografien sind also Rekonstruktionen, basierend auf Fakten und Reflexionen, teilweise auch auf Vermutungen. Es sind oft Bruchstücke von Lebensgeschichten, die wie in einem Mosaik Stück für Stück das Bild eines Menschen erkennen lassen. Teilweise lassen sich nur Skizzen anfertigen, in anderen Fällen ist das Bild nahezu komplett. Die Mosaiksteinchen, die vorliegen, sind wertvoll und machen anschaulich, wie sich der Kontaktabbruch seinen Weg ins Leben bahnen kann. Wahrscheinlich fragt sich jeder im Laufe seines Lebens mindestens einmal: Warum bin ich so geworden, wie ich bin? Welche Erfahrungen haben mich zu diesem Menschen gemacht? Das Elternhaus spielt mit Sicherheit eine große Rolle, da sich die grundlegenden Charakterzüge in den frühen Lebensjahren ausbilden. Später sind es Freunde, Kollegen, Begegnungen, die einen prägen, denn niemand kann sich den Einflüssen des Lebens entziehen. Aber auch wichtige Lebensentscheidungen, unvorhergesehene Situationen und Erfahrungen prägen. All dies ist entscheidend dafür, ob frühe Einflüsse ein Leben lang nachwirken, oder ob sich das Wesen im Einklang und Widerstreit mit der Umwelt elastisch fortbildet und Vergangenes komplett abgeschlossen werden kann.
Doch was versteht man unter »Charakter«? Einerseits ist ein Mensch in seiner Anlage schon »fertig«, wenn er auf die Welt kommt. Andererseits weiß man inzwischen, dass frühkindliche Erfahrungen in der Beziehung zu den Eltern die Entwicklung eines Kindes grundlegend bestimmen. Eltern können Selbstbewusstsein und Stärke vermitteln, sie können ihr Kind aber auch daran hindern, diese Charaktereigenschaften zu entwickeln. Prägend für ein Kind ist außerdem, welche Haltung seine Eltern gegenüber widrigen Lebensumständen, Hemmnissen oder Problemen einnehmen. Auch die Geschwisterfolge spielt eine Rolle sowie der Altersunterschied zwischen den Kindern.
Ob jemand zum Kontaktabbruch neigt, ist sicher vielfach eine Charakterfrage – vielleicht ist die Tendenz dazu bei einem Menschen größer, der alles in sich hineinfrisst, bis der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt. Das muss dann gar nicht unbedingt ein besonders spektakuläres Ereignis sein. Es sind aber auch Schicksalsschläge wie Scheidung, Tod oder Unfall, die einen Menschen verändern und dazu führen können, dass er mit seinem bisherigen Leben bricht.
Ich denke an Claudia: Sie zieht einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben; ihre fünf Jahre jüngere Schwester hat den Kontaktabbruch bis heute nicht verwunden, versucht generell Brüche zu kitten, wo es nur geht. Eine schwierige Kindheit hatten beide, wie wir noch sehen werden. Wieso wird die eine Schwester zur Abbrecherin und die andere zur Verlassenen? Zusammen mit Ute werfe ich einen genaueren Blick auf die Familiengeschichte. Sie lächelt, während sie mir von dem traumatischen Ereignis ihrer Kindheit erzählt, das sicherlich auch das Verhalten ihrer Schwester geprägt hat. Die Erinnerung
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