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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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jedes nur ansatzweise kritische Wort als Attacke empfindet. Doch wie entwickeln sich solche Charakterzüge und Verhaltensweisen? Wurden sie nicht schon in der Kindheit erlernt? Ist nicht vielleicht sogar ein typisches Familienmuster mitentscheidend dafür, ob jemand zum Abbrecher oder zum Verlassenen wird?
    Die Familientherapeutin Trin Haland-Wirth, die gemeinsam mit ihrem Mann den Psychosozial-Verlag gegründet hat, wird während eines langen Interviews plötzlich sehr persönlich, als wir darüber diskutieren, wie sehr das Verlassen-Werden die eigene Biografie und das Leben der Nachkommen prägt. Auch Experten haben ihre Lebensgeschichte, und überraschenderweise neigen sie bei Interviews häufig dazu, von sich zu erzählen. Ja, sie könne nicht unberührt von diesem Thema bleiben, weil auch sie eine Verlassene sei, so die Psychotherapeutin, und dann beginnt sie ihre Geschichte zu erzählen: »Ich komme aus der DDR , und meine älteren Geschwister sind während der russischen Besatzung nach und nach in den Westen geschafft worden. Ich war damals zwischen null und vier, und meine Eltern haben das natürlich nicht erzählt. Die waren plötzlich weg, meine Geschwister. Nur ich und der kleinere Bruder waren da. Das ist eine Trauer, die ich bis heute in mir habe. Dieses Verlassen-Werden und nicht zu wissen, warum, steckt in mir drin. Was macht man, wenn man so ein Trauma hat? Vielleicht habe ich meine Kinder unter dem Einfluss dieses Traumas erzogen. Ich frage mich also: Was macht das mit einer Familie?« Trennungsängste, Konfliktscheu, überzogene Reaktionen, all das kennt Trin Haland-Wirth, und vielleicht hat ihre Berufswahl auch etwas mit ihrer Lebensgeschichte zu tun. Das Verlassen-Werden hinterlasse jedenfalls tiefe Spuren im Leben eines Menschen, so die Therapeutin. Und neben dem Ereignis ist es offenbar eine Frage des Typus, ob aus dem früh Verlassenen ein Abbrecher oder ein Verlassener wird oder ob er Kontakte halten bzw. ohne radikalen Bruch beenden kann.
    Ute und Claudia, die beiden Schwestern, haben dieselben Eltern und eine ähnliche Sozialisation. Dennoch decken die Schwestern beide Seiten ab, die des Verlassenen und die des Abbrechers. Bei ihnen könnte die Geschwisterfolge eine Rolle spielen. Claudia wurde als Achtjährige zum Vater abgeschoben und war dort allein. Ute war immerhin schon zwölf Jahre alt, als die Mutter sie aus den Ferien beim Vater einfach nicht mehr abholte. Etwas Positives hatte dieses Erlebnis zumindest, sie wurde wieder mit ihrer Schwester vereint, die sie vermisste und nach der sie sich gesehnt hatte. Und schließlich spielt dann doch der Charakter eine Rolle, der aus dem Erlebten erwuchs: Die Ältere kämpfte, wollte die neue Partnerin des Vaters nicht akzeptieren, die Jüngere dagegen blieb passiv. Claudia hatte längst mit der Mutter abgeschlossen, ihr Foto vom Nachttisch verbannt und auch der kleinen Schwester verboten, ein Bild der Mutter aufzustellen. Natürlich steckt in Claudias Verhalten, die damals fast schon ein Teenager war, eine ungeheure kindliche Wut, im Sinne von »Wenn du mich nicht mehr haben willst, bist du für mich gestorben«. Claudias Bilderverbot ist eine machtvolle symbolische Geste als Antwort auf eine gewaltsame, grausame Verfügung der Mutter. Claudia hatte genügend Zeit, diese symbolische Handlung als Antwort zu entwickeln. Als mit Ute dann dasselbe geschah wie mit ihr – die Abschiebung zum Vater –, konnte sie sich nur bestätigt fühlen. Heute fragt sich Ute, ob sich damals diese Reaktion Claudias – die Beziehung zu einem anderen Menschen und den damit verbundenen Schmerz gewissermaßen abzuschneiden – bei ihrer Schwester zu einem Verhaltensmuster verfestigt hat.
    Fast scheint es allerdings, als würde Ute unbewusst die »Identifikation mit dem Aggressor« üben – ein Verhalten, das als Folge eines Traumas auftreten kann. Falls aber in der Kindheit und Jugend der beiden Schwestern Utes Rolle darin bestand, die Mutter zu verteidigen, könnte das erklären, warum Claudia später auch zu ihr den Kontakt abbrach. Claudia selbst wiederum hat sich den Kontaktabbruch als Mittel zur Beendigung von Konflikten bei der Mutter abgeschaut. Vielleicht gab es in ihrer Kindheit keine Gelegenheit, andere Möglichkeiten des Umgangs mit Konflikten zu lernen. Claudia suchte früh die Unabhängigkeit von der Familie, verließ mit 18 Jahren das Elternhaus und heiratete. Ute wurde schließlich zwischen den Großeltern wie ein lästiges Möbelstück hin- und

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