Funkstille
schaffen, das er zerstören durfte?
Wie kam es, dass Jan, den ich als eloquenten Redner kenne, nicht in der Lage war, seine Gefühle und den tiefen Wunsch nach Selbständigkeit zu artikulieren?, frage ich mich. Vielleicht hat er es getan, wurde aber von seiner Mutter nicht gehört? Und wenn es so war, spinne ich den Gedanken weiter, was ist dann der Grund dafür? Hätte Isabella M. das Streben ihres Sohnes nach Unabhängigkeit nicht verkraftet? Worin besteht ihr Anteil am Geschehen? Jan hat mir erzählt, dass er im Konflikt mit der Mutter das diffuse Gefühl hatte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Dazu später mehr.
Wenn Michael von seinen Geschwistern auf die Mutter angesprochen wird, steht er auf und geht. Dem folgt ein wochen-, manchmal auch monatelanges Schweigen. Funkstille als Machtmittel auch hier? Marianne Wedler lacht: »Klar ist es ein Machtkampf: Wenn ihr nicht spurt, meine Regeln nicht befolgt, dann gehe ich eben.« Einmal hat Michael zu seiner Schwester – der einzigen Person, die er gelegentlich an sich heranlässt – gesagt: »Am liebsten würde ich Mutter enteltern lassen.«
In gewisser Weise hat er das ja auch getan. Er hat die Mutter aus seinem Leben verbannt. Für ihn ist Lisa-Maria W. gestorben, und weil sie gewissermaßen wieder lebendig würde, wenn man über sie spräche, verweigert Michael den Dialog mit seinen Geschwistern. Es ist der Versuch, ihnen die Funkstille ebenfalls aufzuzwingen: Wer Kontakt mit ihm haben will, für den darf die Mutter nicht existieren. Ein Erpressungsversuch!
Der erfolgreiche Wissenschaftler sitzt mir im Café gegenüber, hilflos und verzweifelt. Die jüngere Schwester hat ihn mit ihrem hartnäckigen Schweigen tief getroffen. Die Macht des großen Bruders, der in vielem so viel besser war, ist gebrochen. Sie hat im Schweigen ihr Machtmittel gefunden. Denn nun kann sie bestimmen, wann, wie und vor allem, ob man sich begegnet. Er hingegen ist orientierungslos, hat keine Kontrolle über die Situation. Ich erinnere mich: Nach Grawe ist der Wunsch nach Kontrolle und Orientierung ein menschliches Grundbedürfnis. Kein Wunder, dass mein Gesprächspartner im Kern getroffen scheint. Er sitzt mir, einer Fremden, in einem voll besetzten Café gegenüber und weint. Er weiß nicht, warum die Schwester keinen Kontakt mehr will. »Niemals hätte ich gedacht, dass mich das so aus der Bahn werfen würde«, gibt er zu.
Der Kontaktabbruch ist die Strafe für sein überhebliches Verhalten, ahnt er. Doch was die Schwester dabei vergisst: Er war in diesem Verhalten auch der große Bruder ihrer Kindheit, der sich eben kümmerte. Vielleicht hat er nicht die richtigen Worte gefunden, aber in seinen Ermahnungen, doch auch mal eine Ausbildung zu Ende zu bringen, schwingt immer auch die Sorge mit, dass es der kleinen Schwester nicht gut gehen könnte. Doch sie, überempfindlich, wird von Bemerkung zu Bemerkung wütender. Die Funkstille leitet sie mit den Worten ein: »Ich brauche jetzt erst einmal Abstand.« Ob sie zu diesem Zeitpunkt wusste, dass sie den Kontakt auf Dauer einfrieren würde, ist nicht klar. Sie will sich trotz meiner mehrmaligen Nachfrage dazu nicht äußern. Der Bruder glaubt, die Schwester für immer verloren zu haben. Er vermisst sie, und ihre Abwesenheit vergiftet sein Leben.
»Ich schweige, weil ich mich schäme« Die Funkstille als Folge von Kränkungen
Zu einem weiteren Termin mit dem Wissenschaftler besuche ich ihn zu Hause. Wir sitzen bei Cola und Chips, sein kleiner Sohn umarmt und küsst ihn, seine Frau ruft von unterwegs an. Sie lieben ihn, und sicher ist er ein guter Ehemann und liebevoller Vater. Er wirkt aufgeräumter als bei unserem ersten Treffen. Vor Kurzem hat sich ein zarter Kontakt zur Schwester entwickelt, den er auf keinen Fall gefährden will, deshalb entscheidet er sich gegen ein Mitwirken an unserer Dokumentation. Ich rekapituliere nochmals, was er mir bisher berichtet hat: Seiner neun Jahre jüngeren Schwester gelang es nicht, im Leben ebenso gut Fuß zu fassen wie er. Sie brach ihr Studium ab, ebenso wie verschiedene Ausbildungen. Auch eine Familie hatte sie mit 40 noch nicht gegründet. Er dagegen hatte es geschafft und ließ es an Hinweisen – verbal wie nonverbal – auf diesen Unterschied nicht fehlen, wie er selbstkritisch vermutet.
Was er denn aber so Verletzendes gesagt habe, frage ich nach, außer dass die kleine Schwester doch endlich mal etwas zu Ende machen solle. Er hält dagegen, dass seine Bemerkungen sie sehr gekränkt
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