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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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hergeschoben, da der Vater mit der neuen Partnerin weitere Kinder bekam und seine volle Aufmerksamkeit der neuen Familie widmete. Ständig veränderten sich die Familienkonstellationen. Vielleicht hält sie heute deshalb so ängstlich am Ideal einer heilen Familie fest, in der es keine Brüche geben darf.
    Auch wir fragen uns: Ist Ute die ewig Verlassene? Gibt es so etwas wie ein Persönlichkeitsprofil des Verlassenen, sozusagen das ewige Opfer? Dazu noch einmal Professor Rauchfleisch: »Eher nicht. Ich wäre zumindest äußerst vorsichtig. Damit tut man den Opfern Unrecht. Man sagt dann etwa: Ist ja klar, eine Frau, die so und so ist oder solche Beziehungen pflegt, die ist ja prädestiniert, Opfer von Gewalttaten oder Übergriffen zu werden. Das finde ich schlimm, weil es dem Opfer auf das ohnehin schon Erlittene noch die Schuld obendrauf packt. Natürlich kann man sagen, es gibt sicher Männer wie Frauen, die in Beziehungen eher als andere verlassen werden, weil sie sich nicht deutlich genug äußern, weil sie nicht den Mut haben, ihrerseits die Beziehung zu beenden und zu sagen: Hör’ zu, ich mache da nicht mehr mit.«
    Wir interviewen Annika, Utes 22-jährige Tochter. Lange sprechen wir miteinander, und am Ende steht die Überlegung, ob Claudia sich die Verhaltensweise der Mutter angeeignet hat: flüchten und wegrennen, ohne Erklärung. »Das wäre schrecklich, wenn sich dieses Muster durch unsere Familie zieht«, meint Annika entsetzt und zündet sich die nächste Zigarette an. »Ich werde so etwas niemals machen, ich könnte mich im Spiegel nicht mehr anschauen.« Ute hat das Trauma offenbar nicht an ihre Kinder weitergegeben. Das Verhältnis zu ihrer Mutter hat sie aufgearbeitet, indem sie als Erwachsene den Kontakt zunächst wieder aufgenommen, dann aber wieder abgebrochen hatte: Die Verlassene von einst wurde zur Abbrecherin. Die Mutter, erzählt mir Ute, habe keinerlei Reue darüber empfunden, ihre Töchter als Kinder zurückgelassen zu haben. Eine Bitte um Verzeihung gab es nicht. Ute zog einen Schlussstrich, als die Mutter ihr zum Geburtstag im Februar eine Osterkarte schickte mit der Bitte um Claudias Adresse.
    »Ich schickte ihr einen längst fälligen, aber bitterbösen Brief und erklärte ihr, dass ich ihre Takt- und Gedankenlosigkeit nicht mehr ertrage«, so Ute. Sie brach den Kontakt ab, erklärte der Mutter aber auch, warum sie das tun musste. Das unterscheidet Ute von ihrer Schwester.
    »Unsere Eltern waren keine Eltern«, erzählt Ute, als wir sie in ihrer neuen Wohnung treffen. Sie ist noch einmal umgezogen. Annika studiert mittlerweile in Berlin. Ihr jüngster Sohn Benni wohnt jetzt bei ihr. Die neue Wohnung ist wie die bisherige in Weiß und Pastell eingerichtet – Utes Versuch, sich eine helle, heilsame Umgebung zu schaffen? Eine gesunde Reaktion, würden Traumaforscher sagen, denn an etwas Schönes zu denken ist als wirksames therapeutisches Mittel bekannt. Ihrer traumatischen Erfahrung setzt Ute einen schönen Familienraum entgegen.
    Für unseren Besuch ist der Tisch sorgfältig dekoriert, Ute hat zwei Kuchen gebacken. Sie ist ein liebevoller und ehrlicher Mensch, Bösartigkeit und Hinterhältigkeit irritieren sie. Sie kann mit keinem Arsenal schützender Verstellungstricks aufwarten, wie so viele andere Menschen. Sie ist aufrichtig und wüsste nicht, warum sie andere Menschen täuschen sollte. Sie sieht einfach keine Notwendigkeit zu dieser Art von Selbstschutz, obwohl in ihrer Kindheit genügend Anlass dazu bestanden hätte: »Mein Vater trank zu viel, und meine Mutter hatte nach der Trennung von ihm ständig wechselnde Partner, die sie nicht sehr gut behandelten. Ich erinnere mich an eine Szene: Meine Mutter hatte eine neue Beziehung, die kloppten sich ständig. Einmal aber schlug ihr Freund sie besonders brutal zusammen. Ich rannte auf die Straße und holte Hilfe. Natürlich wollte ich, dass sie sich von ihm trennt, aber was ich wollte, spielte keine Rolle. Sie hat mich nach diesem Vorfall in ein Kinderheim gegeben. Doch mein Vater zwang sie, mich wieder abzuholen.«
    Ute und Claudia haben zwei Halbbrüder: Der eine ist bereits tot, der andere sitzt wegen eines Drogendeliktes im Gefängnis. Es gab keine konstanten Bindungen in ihrem Leben. Woher auch? Die Mutter, genau wie der Vater ein Kriegskind, kannte ihrerseits keine zuverlässigen Beziehungen, wusste nicht, wie man sie herstellt oder lebt. Utes Mutter hatte einen Zwillingsbruder. Nach dem frühen Tod von Utes Großmutter wurden

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