Funkstille
haben müssen. Er war der große Bruder, der zunehmend überlebensgroß wurde, gleichzeitig aber auch ein Vorbild war. Er glaubt, dass sie ihn idealisiert, auf einen Sockel gestellt hat. Was er sagte, war für sie wichtig. Während ihres Kunststudiums suchte sie häufig seinen Rat. Eine ambivalente Beziehung; eng, aber verletzend. Der Erfolg des bewunderten Bruders kratzt am Selbstbild der Schwester. Ich beginne zu verstehen, dass sie sich dieser gefährlichen Nähe entziehen wollte.
Seit meinem letzten Termin mit dem Wissenschaftler haben die beiden Geschwister sich bei einem »neutralen« Therapeuten zu einem gemeinsamen Gespräch getroffen. Das Erste, was seine Schwester hervorbrachte, so erzählt er mir ehrlich verwundert, war ein Satz, den er vor zehn Jahren gesagt hatte. Den Satz mag der sonst überlegt formulierende Akademiker nicht so gerne wiederholen. Es muss wohl etwas Grenzwertiges gewesen sein, auch wenn es in dem betreffenden Moment nicht verletzend gemeint war, wie mein Gesprächspartner versichert. Der Ort des Geschehens war die Wohnung eines Freundes. Man hatte etwas getrunken und war in einer lockeren Stimmung, als der große Bruder auf seinen Kumpel traf, der zugleich der zukünftige Mann seiner Schwester war: »Und du vögelst nun also mein Schwesterchen«, sagte er. Vornehm war das nicht, nein, wie der Wissenschaftler selbst im Nachhinein weiß, sogar übergriffig, ja, auch das, aber warum bricht die Schwester Jahre später wegen eines so dumm dahingesagten Satzes den Kontakt ab? Warum hat sie ihm damals nicht einfach ihre Meinung gesagt, dass er wohl spinne, ihrem gleichermaßen verdutzten Freund so etwas an den Kopf zu werfen? Warum hat sie ihm nicht verbal und zeitnah klargemacht, dass er so nicht über sie sprechen durfte? »Sie konnte es nicht«, konstatiere ich und überlege gleichzeitig, welches Ausmaß die beleidigende Bemerkung für die Schwester wohl gehabt haben mag. Sie muss sich gedemütigt gefühlt haben, ja mehr als das. Der vermeintlich »witzige« Satz machte sie so zum Objekt – umso mehr, insofern er nicht an sie selbst, sondern an ihren Freund gerichtet war. Sie, die sich ohnehin schon vom Bruder kleingemacht fühlte, wurde nun auch noch von ihm verdinglicht, wie ein Besitz, der vom Bruder auf den Kumpel übergeht.
Von daher wundert es nicht, dass sich die Bemerkung über Jahre hinweg tief in »Schwesterchens« Seele hineingefressen hat und schließlich das Verhältnis so vergiftete. Sie muss es als umfassende Beschämung erlebt haben, vom menschlichen Gegenüber zum Objekt gemacht zu werden. Sicher, die Bemerkung war ihrem Bruder nur so herausgerutscht. Aber wog sie nicht gerade dadurch besonders schwer, dass sie in einem Moment des Kontrollverlusts geschah? Zeigt das nicht gerade, wie er im Innersten von ihr dachte? So oder ähnlich könnte sie gedacht haben, überlege ich. Immerhin war es diese Bemerkung, die die Schwester dem Bruder als auslösendes Moment des Kontaktabbruchs nennt.
Eine Beschämung also als Grund für die Funkstille? Ich spreche mit dem Psychiater Professor Martin Teising. »Die Funkstille ist ja ein Verschwinden«, stellt er klar: »Meiner Meinung nach geht es um Vernichtung. Beispielsweise ist das Selbstbild des Abbrechers zerstört, und er will nicht, dass das für den anderen sichtbar wird. Er will also nicht, dass das, was er selbst an sich nicht erträgt, für den anderen erkennbar wird. Also versinkt er in den Boden – aus Scham. Scham kann sogar tödlich sein, weil eben einer vernichtet wird oder sich so fühlt. Es ist eine tödliche Verletzung der eigenen Selbstvorstellung.« »Und das kann man nicht aussprechen, weil es die Scham zementieren würde?«, frage ich. »Möglicherweise ja«, so Teising, »und außerdem: Wenn man darüber sprechen kann, hat man sie ja schon ein Stück weit gebändigt. Es gibt doch viele Gefühle, die so überwältigend sind, dass sie den Einzelnen nicht mehr handlungsfähig sein lassen. In dem Moment, in dem man etwas in Sprache fassen kann, benennen kann, ist es schon nicht mehr so bedrohlich, schon ein Stück weit gebannt.« Eine Demütigung kann uns offenbar so sehr beschämen, dass wir uns wünschen, nicht mehr zu existieren. Die Funkstille: eine Form des Sich-in-Luft-Auflösens. Wenn ich nicht da bin, kann man nicht sehen, was mich beschämt. Also entziehe ich mich, vermeide jede Begegnung, breche den Kontakt ab.
Die Scham ist offenbar ein unterschätztes Gefühl. Aber wenn Sprache hilft, warum spricht der
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