Funkstille
daran scheint sehr lebendig. Ute schildert die Ereignisse, als seien sie gestern geschehen: »Meine Eltern haben sich sehr früh getrennt. Meine Mutter gab Claudia – sie war damals gerade acht Jahre alt – zu meinem Vater, trennte uns also; ich blieb bei meiner Mutter und ihrem neuen Mann. In den Ferien brachte sie mich immer zu meinem Vater und zu meiner Schwester. Ich war glücklich dort, denn ich vermisste meine Schwester. Dann kamen jene Herbstferien, die anders endeten als geplant. Ich verbrachte die Ferien wie gewohnt bei Vater und Schwester. Als die Ferien vorbei waren, saß ich auf dem gepackten Köfferchen und wartete auf meine Mutter. Sie war schon einige Tage überfällig, und ich hätte längst wieder zur Schule gehen müssen. Irgendwann sagte mein Vater: ›Die kommt wohl nicht mehr‹.« Und so geschah es auch. Die Mutter kam nicht mehr. Als Ute im Interview ihre Geschichte erzählt, müssen wir im Team kollektiv schlucken. Plötzlich scheint sie wieder das kleine verlassene Kind zu sein. Sie sieht furchtbar traurig aus. Unsere Kamerafrau muss noch Tage später immer wieder über diese todtraurigen Augen reden. Wir werden uns immer sicherer, dass Ute und Claudia schwer traumatisiert sein müssen. Seit diesen Herbstferien blieb Ute bei ihrem Vater, der Stiefmutter, mit der sie sich leidlich verstand, und ihrer Schwester Claudia, die jedoch die neue Frau des Vaters nicht akzeptieren wollte. Der Vater bemühte sich, die Stiefmutter verhielt sich dagegen neutral. Der Kontakt zur leiblichen Mutter sollte für viele Jahre abreißen.
Ute wurde in ihrem Leben schon dreimal verlassen. Erst schob die Mutter sie als Zwölfjährige ab, dann brach die Schwester vor 17 Jahren den Kontakt ab und schließlich verließ ihr Mann sie wenige Monate vor unserem ersten Interview. Die plötzlichen und unvorhersehbaren Verluste haben sie massiv verunsichert und ihr Selbstwertgefühl beschädigt. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens stellt sie selbst eine Frage, die ich ihr nicht zu stellen gewagt hätte: »Kann es sein, dass ich ein Mensch bin, der immer wieder verlassen wird?« Ute glaubt, dass es an ihrem Charakter liegt, an ihrer Person. Provoziert sie tatsächlich unbewusst eine Wiederholung alter Traumata? Natürlich überlege auch ich immer wieder, ob es den Typus des Verlassenen oder des Abbrechers gibt. In den Interviews wirkt es manchmal so, als ob eher unsichere Persönlichkeiten, sich von Kindheit an ungeliebt fühlende Menschen den Kontakt abbrechen. Menschen, die zu wenig Zuwendung erhielten und denen daher eine Grundsicherheit fehlt, so wie Michael oder Claudia. Aus diesem Blickwinkel allerdings hätte auch Ute zur Abbrecherin werden können. Ich denke darüber nach, inwieweit andere Faktoren wie das Lebensalter, die Position in der Geschwisterfolge und letztlich doch die Persönlichkeit mit darüber entscheiden, ob aus der abgewerteten Person ein Abbrecher oder ein Verlassener wird.
Wieder einmal trage ich meine Überlegungen dem Experten vor. »Es gibt nicht den typischen Verlassenen oder den typischen Abbrecher. Für Abbrecher wie Verlassene trifft sicher zu, dass sie stark symbiotische Beziehungen pflegen, fast ineinander aufgehen und sich wenig voneinander differenzieren. Es sind aber auch die Umstände. Man muss sich die Interaktion dieser beiden Menschen genauer anschauen. Es kann gut sein, dass die gleiche Person – nehmen wir mal an, der Abbrecher – mit anderen Partnern nicht brechen würde. Aber in dieser speziellen Situation tut er es doch. Dasselbe gilt auch für die verlassene Person, die vielleicht in einer anderen Konstellation sehr genau hätte sagen können, was sie stört, oder darauf gedrungen hätte, etwas zu klären. Es sind also die Personen in spezifischen Beziehungen unter bestimmten Umständen«, so der Psychoanalytiker Udo Rauchfleisch.
Aber es ist doch auffällig, dass es bestimmte Charaktere, wie beispielsweise Ute, gibt, die häufig verlassen werden und andere, die dazu neigen, andere zu verlassen. Der Mensch neigt dazu, gewohnte Verhaltensmuster beizubehalten. Der Verlassene treibt vielleicht, ohne es zu wollen, andere Menschen immer wieder in die Flucht, der Abbrecher dagegen scheint ständig selber auf der Flucht zu sein. Bei genauerem Hinsehen gibt es natürlich Charakterzüge, die das eine oder das andere Verhalten begünstigen. So hat sich bei meinen Recherchen der Eindruck erhärtet, dass eher der Dominante den anderen von sich wegtreibt und der Überempfindliche
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