Funkstille
sei jegliche Äußerung über die eigene Befindlichkeit unterdrückt worden. »Meine Mutter wurde geschlagen und kleingehalten, aus ihr wurde eine große Verdrängerin. Sie weiß überhaupt nicht, wie man mit Konflikten umgeht«, erzählt der Wissenschaftler. Seinem Vater erging es kaum anders. Er war der jüngste von fünf Söhnen und musste als Einziger nicht in den Krieg ziehen. Die Eltern saßen Tag für Tag in der Küche und studierten die Listender Gefallenen, in Sorge um das Leben ihrer vier Söhne. Der Fünfte saß stumm am Tisch, als sei er nicht existent. Dabei lebte er doch. Er war da. Seine Bedürfnisse und Gefühle spielten aber keine Rolle. Niemand fragte ihn, wie es ihm in dieser Situation ging. Die Sprachlosigkeit der Eltern verurteilte ihre Kinder zum Schweigen. Der Vater unseres Wissenschaftlers wählte die Flucht nach vorne, wurde erfolgreicher Bauunternehmer, die Mutter zog sich zurück. »Emotionale Defizite hatten sie natürlich beide, ganz massiv sogar. Ich nahm mir dennoch meinen Vater zum Vorbild, meine Schwester kommt eher nach unserer Mutter«, meint er. Doch inwiefern haben sich die Eltern nur um sich selbst gekümmert, will ich wissen. Zwischen seiner Oma, der Mutter seiner Mutter, und ihrem Schwiegersohn habe es nichts als Hass gegeben. Die Oma habe seine Mutter erpresst mit der Drohung, sich umzubringen, wenn sie nicht bei ihr wohnen könne. Ständig habe es Streit unter den Erwachsenen im Haus gegeben, und die Kinder gerieten zwischen die Fronten. Als er, der große Bruder, zum Studium das Elternhaus verließ, habe seine Schwester alles abbekommen. Sie musste sich von nun an allein gegen die Egozentrik und unterschwelligen Manipulationsversuche der Erwachsenen wehren.
Dass der Wissenschaftler später doch noch lernte, Konflikte anzusprechen und Bedürfnisse zu äußern, ist wohl seiner Frau zu verdanken. Seine beiden Söhne wirken selbstbewusst und fühlen sich sichtbar geliebt. Ja, er habe es geschafft, seinen Kindern ein liebevolles Elternhaus zu bieten, immer das abschreckende Beispiel der eigenen einsamen Kindheit vor Augen. Natürlich wirkt die Lieblosigkeit eines Elternhauses prägend. Auch der klärende Umgang mit Konflikten will gelernt sein. Dieses Rüstzeug fehlt vielen Kriegskindern. Eigentlich absurd: Müsste man nicht gerade in den Kriegsjahren gelernt haben zu kämpfen? Nicht nur der Krieg an den Fronten macht gefühlskalt und fördert Verdrängung. Die Zumutungen waren offenbar auch im zivilen Alltag zu zahlreich und gewaltig, als dass die Seele sie unbeschadet hätte überstehen können. Man musste sich schützen vor schrecklichen Bildern und erlebten Alpträumen, erzählten mir die Kriegskinder, die ich für eine ARD -Dokumentation interviewt habe. Hätten sie damals reden dürfen, säße das Trauma nicht so tief – davon bin ich überzeugt. Bis heute habe ich nicht vergessen, wie beklemmend gegenwärtig die Kriegserlebnisse in diesen Interviews waren. Plötzlich waren meine Gesprächspartner wieder im Bunker oder schlugen die Hände vors Gesicht, um sich vor den Tieffliegern zu schützen, wenn sie von den Angriffen berichteten. Die Ereignisse waren Jahrzehnte her und doch reine Gegenwart.
Das Schweigen hatte offenbar das Trauma des Krieges zementiert. Es schien Stille zu herrschen in diesen Menschen, als sei der Ton ihres Lebens einfach abgeschaltet worden, nur die Bilder liefen weiter. Die Empfindungslosigkeit nach den Erlebnissen des Krieges basiert nicht auf einer generellen Gefühllosigkeit, sondern resultiert aus einem Gefühlsschock, glaube ich nach zahlreichen Interviews zu erkennen. Die Eltern unserer Verlassenen und Abbrecher sind ebenfalls Kriegskinder. Es fällt auf, dass viele von ihnen dazu neigen, über den Willen ihrer Kinder ebenso hinwegzugehen, wie während des Krieges über ihre Bedürfnisse hinweggegangen wurde.
»Als Kind wurde ich von meiner Mutter mit der Haarbürste geschlagen, später bestrafte sie mich mit Schweigen, was noch mehr schmerzte«, so Marina M., deren Sohn Rico den Kontakt mit ihr abgebrochen hat. »Das ist eine besonders perfide Art der Funkstille. Sie bestrafte mich in den eigenen vier Wänden mit Schweigen. Man isst zusammen, und sie redet nicht mit mir, als wäre ich nicht da. Auch meinen Vater behandelte sie oft wie Luft. Später, als ich studiert und promoviert hatte und sie spürte, dass ich sie nicht mehr brauchte, kritisierte sie mich ständig, und wenn ich nicht hinhörte oder nicht so reagierte, wie sie wollte,
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