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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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ihre Mutter und ihr Onkel getrennt. Utes Mutter wuchs von da an bei einer Tante auf. Es kam der Krieg, und die Familie floh aus Danzig. Sie sollten eigentlich mit der »Wilhelm Gustloff« auslaufen, entschieden sich aber für den Landweg, weil Utes Mutter Angst vor Wasser hatte. Auf der Flucht verlor sie ihre Tante. Schließlich kam die damals 18-Jährige alleine in Schleswig-Holstein an. Was sie als junge Frau auf der Flucht erlebt hatte, hat Utes Mutter niemals erzählt. Tiefes Schweigen lag über den Kriegsjahren. Utes und Claudias Mutter hat die Erfahrungen jener Zeit wohl ausgeblendet – und sich dadurch der Möglichkeit beraubt, sie zu verarbeiten. Sie blieb zeitlebens eine Analphabetin für ihre eigenen und für fremde Gefühle. Sie wisse gar nicht, was Mitgefühl oder Fürsorge sei, meint Ute. Sie habe beides ja niemals selbst erfahren, konnte es also auch nicht weitergeben. Ihre Mutter heiratete jung, doch auch ihr Mann – Utes Vater –, der mit 16 Jahren Soldat wurde, war geprägt von den Kriegserfahrungen. Er betäubte seine Erinnerungen mit Alkohol. Ute erinnert sich: »Mein Großvater konnte ihm nie verzeihen, dass er für die Nazis im Krieg war. ›Es wäre besser, du wärst nicht zurückgekommen‹, sagte er immer wieder zu seinem Sohn.«
    Über Gefühle sprach man in Utes Elternhaus nicht: »Ich spürte, dass meiner Mutter Schreckliches zugestoßen war, aber ich traute mich nicht zu fragen. Eigentlich haben wir nie wirklich miteinander gesprochen. Ich habe immer versucht, meiner Mutter alles recht zu machen, das liebe Kind zu sein, und Claudia war eben die Rebellin.« Aber woher hätte ihre Mutter wissen sollen, wie eine Mutter sich verhält, wo sie doch selbst keine Mutter hatte, werfe ich ein. Sie war zwölf Jahre alt, als ihre Mutter starb, so alt wie Ute, als ihre Mutter sie verließ. Aus Ute bricht es schließlich heraus: »Aber ich mach’ es doch auch nicht! Ich lass’ doch auch nicht meine Kinder im Stich. Ich liebe meine Kinder über alles. Wir wohnen teilweise sogar zusammen! Verhaltensmuster müssen sich doch nicht wiederholen, oder?« Für Ute trifft das zu, doch Claudia scheut offenbar sehr wohl Kontinuität und dauerhafte Bindungen und folgt damit dem familiären Muster. Allerdings bleibt die Frage offen, ob Claudias Kontaktabbruch einer bewussten Entscheidung folgte oder ob sie nicht doch eher instinktiv handelte. Manchmal gibt es einen unerklärlichen Sog, der Menschen dazu veranlasst, Fehler zu machen. Die Betroffenen wissen es zwar, können oder wollen aber dennoch nicht anders entscheiden. Eine wirklich freie Wahl hatte Claudia wohl nicht. Der Weg in ein vollkommen neues Leben war für sie offenbar die einzige Möglichkeit, mit dem, was sie erleben musste, fertigzuwerden.
    »Es gibt einen Weg durchs Leben, aber merkwürdigerweise erkennst du ihn erst, wenn das Leben um ist. Du blickst zurück und sagst: Donnerwetter, da ist ja ein roter Faden. Vorher bemerkst du ihn nicht, und doch ist er da. Denn du glaubst zwar, dass alle Entscheidungen dem freien Willen entspringen, aber das ist völliger Unsinn! Sie werden vielmehr von etwas bestimmt, was tief in dir liegt, einer Art Instinkt«, konstatiert Tiziano Terzani in dem tiefgründigen Gespräch mit seinem Sohn, das unter dem Titel Das Ende ist mein Anfang als Buch erschienen ist. Terzani versucht darin, dem Sohn die Erkenntnisse seines langen Lebens mitzugeben, damit dieser besser mit der Welt zurechtkommt. Unbestritten ist, dass die Familie ungeheuren Einfluss auf unser Leben hat. Liebe, Bestätigung, das wichtige »Du bist okay, wie du bist«-Gefühl, kann man später auch von Freunden und Partnern vermittelt bekommen, aber erst einmal müssen die Eltern oder eine gleichwertige Bezugsperson diese grundlegende Sicherheit herstellen.
    »Jeder hat sich um sich selbst gekümmert«
    »Es war eine einsame Kindheit. In der Familie hat jeder sich nur um sich selbst gekümmert«, blickt der Wissenschaftler zurück. Wir haben uns zu einem weiteren Gespräch getroffen. Ich möchte wissen, wie er und seine Schwester aufgewachsen sind, wer seine Eltern waren und welche persönlichen Erfahrungen sie gemacht haben. Was haben sie ihren Kindern bewusst oder unbewusst weitergegeben?
    Die Familienverhältnisse seien schwierig gewesen, beginnt er ungewohnt schleppend zu antworten. Nun ja, die Eltern seien eben Kriegskinder gewesen, die Mutter, geboren 1933 als eines von zehn Kindern, hatte nicht gelernt, über Gefühle zu sprechen. Schon sehr früh

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