Funkstille
Überleben, doch das ist keine gute Ausgangsbasis für eine erfüllte Kindheit. Die Kindheit der Kriegskinder war zu Ende, bevor sie begonnen hatte. Früh schon lernten sie Ängste kennen, denen sie als Kinder nicht gewachsen sein konnten. Auch das Schweigen der Erwachsenen angesichts erlebter Kriegsgreuel hat sich in der Seele dieser Kinder eingeprägt. Es wirkte weiter in der nächsten Generation.
Der Psychoanalytiker Werner Bohleber spricht von der transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Die Auswirkungen des Krieges beschränken sich seiner Meinung nach nicht auf die unmittelbar von ihm Betroffenen, sondern zeigen sich auch bei den nachfolgenden Generationen. Nach Bohleber gab es für die vor oder im Krieg geborenen Kinder auch deshalb so gut wie keinen Raum für eine eigenständige Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung, weil ihre Eltern an ihnen unbewusst das unverarbeitete Leid des Krieges aufarbeiteten. Noch wird selten von der transgenerationalen Weitergabe des Kriegstraumas an die Kinder der Kriegskinder, die dritte Generation, berichtet. Aber es gibt sie, und sie kann genauso zerstörerisch sein wie die Traumaübertragung zwischen der ersten und der zweiten Kriegsgeneration.
Der Psychiater und Familientherapeut Peter Heinl lässt in seinen äußerst intensiven und wirkungsvollen Seminaren Kriegskinder der zweiten und dritten Generation erzählen. Es ist unglaublich, wie viel Schmerz dabei aus den Seminarteilnehmern der zweiten Kriegsgeneration herausbricht. Sie sind inzwischen etwa 65 bis 75 Jahre alt, und jetzt, im Alter, dringt das Erlebte noch einmal in das Bewusstsein vor. Jahrzehntelang haben die Kriegskinder verdrängt, um zu überleben. Jetzt sind sie erschöpft vom Schweigen.
Einige von ihnen erzählen in Heinls Seminaren zum ersten Mal von Vergewaltigung, Vertreibung und Bombardement, von den Schlägen des Kriegsvaters und den Nächten im Bunker mit der angsterfüllten Mutter. Die eigenen Eltern so panisch und verunsichert zu erleben war offenbar für manche Kinder erschütternder als die Bombardierung selbst. Die Tränen der Erwachsenen von heute sind oft die Tränen des Kindes, das damals nicht weinen durfte oder konnte. Mit Angehörigen, ihren Ehepartnern oder gar den eigenen Kindern hatten die Kriegskinder niemals über ihre Kriegserlebnisse gesprochen.
Dass das ein Riesenversäumnis war, zeigt sich, wenn in Heinls Seminaren die Kinder der Kriegskinder zu reden beginnen. Sie sprechen von Familiengeheimnissen, wurzelnd im Krieg und in der NS -Zeit, die ihr Leben diffus beeinträchtigen und die sie sich vielleicht sogar schlimmer ausmalen, als sie wirklich waren. Sie berichten flüsternd vom quälenden Schweigen der Eltern, als ob sie damit einen Verrat begehen würden. Die Eltern, eine verstörte Generation, hatten nach dem Krieg nur noch funktioniert, Häuser gebaut und Kinder in die Welt gesetzt. Der Schmerz wurde ausgeklammert, blieb aber wirksam. Die Kinder der Kriegskinder spürten, dass am Verhalten der Eltern etwas nicht richtig, nicht aufrichtig war, aber was? Die Frage blieb unbeantwortet und erzeugte eine tiefe Unsicherheit. Viele Kinder von Kriegskindern brechen in Tränen aus, wenn sie davon berichten. Sie scheinen verstörter als diejenigen, die den Krieg mit seinen Schrecken direkt miterlebt haben. Die Eltern hatten die Kinder unbewusst als eine Art Container für ihre traumatischen Erlebnisse benutzt.
Auf meine Nachfrage hin bestätigt Jan, dass sein Vater als junger Mann an der Ostfront gewesen war. Angeblich, so Jan, habe er mit ansehen müssen, wie Russen seine Mutter vergewaltigt haben. Jan weiß nicht genau, was dem Vater geschehen ist, er blieb mit seinen Fantasien und Vermutungen allein, denn der Vater schweigt darüber bis heute. Jans Mutter Isabella M. war die Tochter eines Berufssoldaten, der sie, wie wir erfahren haben, missbraucht hat. Unvermeidbar, dass Jan die Traumata der Eltern unbewusst übernommen hat, was eine achtjährige Psychoanalyse auch bestätigte. Welches Männerbild haben seine Eltern ihm unbewusst vermittelt? Der Mann als einer, der von Berufs wegen andere tötet, der missbraucht, vergewaltigt, aber auch hilflos zusieht, wie anderen Leid angetan wird?
In der Beziehung zur Mutter liegen die Wurzeln des Mannseins, heißt es oft. Je näher das Kind einem Elternteil steht, desto mehr übernimmt es auch dessen Defizite. In der klassischen Familienstruktur mit Mutter und Vater wird Ablösung dauernd geübt: Schimpft die Mutter, sucht man
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