Funkstille
nicht mehr helfen. Drei Jahre lebte Esther mit dem Tumor im Kopf.
»Es war der blanke Horror zu sehen, wie das Kind immer weniger wurde. Claudia funktionierte. Sie pumpte Esther regelmäßig den Magen aus, setzte Spritzen. Ich habe sie für ihre Stärke bewundert. Niemals sah ich sie weinen. Allerdings waren wir auch alle auf Esther fixiert. Ich habe Claudia nicht gefragt, wie sie sich fühlt. Ich dachte, je mehr Normalität man lebt, desto besser. Außerdem glaube ich, dass Claudia es nicht zugelassen hätte, wenn ich sie gefragt hätte, wie es ihr geht«, beendet Ute einen fast atemlosen Bericht, und es scheint, als würde ihr fast 30 Jahre später klar, dass sie ihre Schwester in dieser schweren Zeit nicht hätte allein lassen dürfen.
Auch Esthers Tod ist eine Geschichte des Verlassen-Werdens. Claudia wurde immer wieder im Stich gelassen, nicht zuletzt von ihrem Mann, der sie in der Zeit, als Esther langsam starb, betrog. »Aber dann weiß sie doch, wie sehr das schmerzt«, wirft Ute in unsere Überlegungen ein. Stimmt, sage ich, aber ihr ging es vielleicht nicht mehr um die anderen, die sie nicht sahen, sondern um das eigene Überleben. Claudia musste ihr Kind beerdigen, und Ute würde ein Kind bekommen: »Ich konnte nicht zur Beerdigung gehen. Das hätte Claudia bestimmt fertiggemacht. Gefragt habe ich sie allerdings nicht.« Drei Monate nach Esthers Tod wurde Annika geboren. Doch die Funkstille begann erst viel später. Claudia kümmerte sich aufopferungsvoll um ihre Nichten und Neffen, gerade zu Annika entwickelte sie, so scheint es, eine besonders innige Beziehung. Auch mit ihrem Mann versöhnte sich Claudia. Es schien, als habe sie Esthers Tod verwunden und würde nach vorne schauen. Sie wurde wieder schwanger. Doch sie sprach darüber nicht und trieb das Kind ab. Ute erfuhr erst lange Zeit später davon.
»Ich fand es toll, dass sie wieder ein Kind haben sollte und konnte absolut nicht nachvollziehen, warum sie das gemacht hat.« Deshalb, denke ich bei mir, wird Claudia es ihr auch nicht gesagt haben. Man sagt, ein Schmerz, der tiefer sei, als wir verkraften können, betäube uns. Ich habe viele Filme über traurige, aber auch tröstliche Lebensgeschichten gemacht und glaube nicht daran. Eher ist es wohl so, dass der Verlust empfindlicher macht. Als Esthers Abschied vom Leben begann, begann wohl auch Claudia, sich von ihrer Umwelt abzuwenden. Ihr Weggang war vermutlich der Versuch, der Verzweiflung zu entkommen. Sie mag befürchtet haben, dass der Schmerz sie nie mehr verlassen würde, also verließ sie den Schmerz. Das Leben mit der geliebten Tochter war vorbei. Es war eine Trennung für immer, wie hätten andere Trennungen mehr schmerzen können? Sie versuchte vielleicht, über die Funkstille eine Beherrschbarkeit des Lebens zu finden, die sie nur so glaubte erlangen zu können. Sie ließ ihr Leben einfach abreißen, weil sie die Lücke nicht mehr schließen konnte. Aber kann man sich aus der eigenen Vergangenheit entlassen?
Ich schreibe Claudia einen Brief und frage, ob sie anonymisiert in einem Buch erklären möchte, warum sie mit ihrem früheren Leben gebrochen hat und warum sie dies zum Zeitpunkt des Kontaktabbruchs nicht erklären wollte oder konnte. Eine Antwort bekam ich nicht, Claudia erhält ihr Schweigen aufrecht. Es zu brechen käme möglicherweise einer Retraumatisierung gleich. Das Schweigen ist eine Form der Abwehr, um die zerbrechliche eigene psychische Integrität zu schützen. Und vielleicht ist es richtig, denn wenn gesprochen würde, läge die Vergangenheit offen. Aber würde dies nicht auch automatisch bedeuten, dass sie bewältigt werden kann?
Sechstes Kapitel
Die Persönlichkeit
»Wir tragen alle unsere Besonderheiten in uns«
Was meine Interviewpartner erzählen, macht deutlich: Nicht nur die Verlassenen sind nach dem Kontaktabbruch tief verletzt. Auch die Abbrecher haben mit Erfahrungen zu kämpfen, die sie zutiefst getroffen haben, und man kann durchaus vermuten, dass der Kontaktabbruch zumindest teilweise durch diese Erfahrungen begründet ist. Widerstand gegen Lebensumstände und Menschen, die einem nicht guttun, kann gesund und natürlich sein, er gehört zur sozialen Interaktion. Wir brauchen Widerstandskraft, um uns gegen Verletzungen durch andere zu wehren. Widerstand ist in diesem Fall nicht Strafe oder Trotz, sondern dient dem Selbstschutz. »Widerstand ist ein Akt der Abgrenzung, der Negation, ein gewolltes Nein«, sagt der Tiefenpsychologe Peter Seidmann. Es
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