Funkstille
war? Er sei kaum zu Hause gewesen, so Lisa-Maria W. War er schließlich doch einmal da, störten ihn die Söhne Michael und Christian. Er hatte für sie nichts als Verachtung übrig, einzig die Tochter, Christine, bekam seine Aufmerksamkeit.
Es ist die »Gedankenlosigkeit der Väter«, so der Psychotherapeut Wieck, die dazu führen kann, dass Männer emotional unterentwickelt bleiben. Ist die Mutter vielleicht irgendwann nur noch der Sündenbock, der an Stelle des abwesenden Vaters herhalten muss? Das mag für Michael gelten, aber auch für Jan, der seiner Mutter vorwirft, dass sie ihn an der Mannwerdung gehindert hat. Was ein Mann war, wusste er allerdings nicht. Sein Vater hatte es ihm nicht vorgelebt. Die Mutter trifft die ganze Wut des Sohnes, und alle Frauen werden stellvertretend für sie in Sippenhaft genommen, vermutet Lisa-Maria W. Von Sohn Christian und Tochter Christine weiß sie, dass Michael keine feste Beziehung hat. Gelegentlich Freundinnen, das schon, doch wenn sie ihm zu nahe kämen, wende er sich schroff ab. Er sei im Grunde mutterseelenallein und habe große Defizite im zwischenmenschlichen Umgang, beobachten seine Geschwister. Michael sei ein Kontrollfreak, sagen die Kollegen. Bei der Arbeit sei er arrogant und besserwisserisch. Er provoziere Distanz. Scheinbar will er auf niemanden angewiesen sein, denn das, so meint er, mache ihn angreifbar, verletzbar. Wir haben bereits gesehen, dass im Kontaktabbruch auch der Wunsch nach Kontrolle stecken kann. Vielleicht aber auch die Hoffnung des Abbrechers, durch das Abschneiden der Beziehung künftig nicht mehr enttäuscht zu werden? Dass darin auch eine Beschneidung der eigenen Freiheit liegt, entgeht dem Abbrecher vermutlich.
»Wann fängt mein Onkel endlich an zu leben?«, fragt Michaels 18-jährige Nichte Anna im Interview. Sie hat häufiger Kontakt zu ihm und glaubt, ihn ein wenig zu kennen. »Mein Onkel ist getrieben, unsicher, einsam und doch auf Liebe aus«, glaubt sie. Vielleicht ist es genau das, überlegen wir im Team nach dem erfrischend klaren Gespräch mit Anna. Michael ist vielleicht zu sensibel, fast hautlos und braucht deshalb die schützende Distanz zu anderen Menschen. Gleichzeitig spricht manches dafür, dass sein Verhalten aus einer problematischen und ungesunden Familienstruktur resultiert, der Michael als einziges von Lisa-Maria W.s Kindern etwas entgegensetzt. Michaels Schweigen der Mutter gegenüber wäre demnach durchaus auch eine gesunde Form des Widerstands. Es macht ihr ihre kränkende Dominanz bewusst und weist sie in ihre Schranken.
»Sei froh, dass du lebst!«
In vielen Familiengeschichten, die in diesem Buch vorgestellt werden, sind die Väter auf die eine oder andere Weise abwesend. In der Großelterngeneration zogen die Väter in den Krieg. In der nachfolgenden Generation finden sich – etwa bei Michael und Jan – Väter, die durch ihr Desinteresse abwesend sind. Die Psychotherapeutin Trin Haland-Wirth ärgert sich über solche Väter. Es seien die Männer, die sich auch später, wenn der Sohn mit der Mutter gebrochen hat, nicht einmischten und feige oder gleichgültig den Mund hielten: »Wo ist denn der Vater, wenn der Sohn mit der Mutter bricht? Warum ist der Vater nicht solidarisch mit der Mutter? Ich kriege eine richtige Wut, wenn ich darüber nachdenke. Warum haut der Vater nicht auf den Tisch und sagt: So geht das nicht! Der Vater ist meiner Meinung nach der größte Versager in diesen Familien.«
Es lohnt sich, die Biografie dieser Väter genauer anzuschauen. Vielleicht haben auch sie in ihrer Kindheit nicht erfahren dürfen, wie ein Vater sich verantwortungsbewusst und zugewandt verhält. Oder der Vater fiel im Krieg, dann blieb für den Sohn eine Leerstelle. Möglicherweise kam aber auch ein gewalttätiger Vater aus dem Krieg zurück, der mit Schlägen züchtigte, oder ein Mann, der durch die Kriegsereignisse gebrochen war.
Man vergisst leicht, dass sich die Kollektiv-Katastrophe eines Krieges aus unendlich vielen persönlichen Katastrophen zusammensetzt. In Europa wurden 20 Millionen Kinder zu Kriegswaisen, oder die Väter kamen körperlich und seelisch verkrüppelt aus dem Krieg zurück. Viele Mütter waren Opfer von Luftangriffen oder Vergewaltigungen, oder sie litten unter den seelisch verwundeten und abgestumpften Kriegsheimkehrern. Da blieb wenig Raum für Kinder. »Sei froh, dass du lebst«, bekamen viele Kinder zu hören, und: »Hauptsache, wir haben etwas zu essen«. Es ging ums nackte
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