Funkstille
Trost beim Vater und umgekehrt. Ein täglich geübtes Spiel. Beim abwesenden, unbeteiligten und schweigenden Vater ist das unmöglich; es bleibt nur die Mutter übrig, auf die sich das Kind fixiert. Vielleicht ist Jans späte rigide Abwendung von der Mutter ein Ersatz für die mangelhafte geschlechtliche Selbstfindung? Wenn dies zuträfe, wäre Jans Vorwurf an seine Mutter, sie habe sein Mannwerden verhindert, gewissermaßen berechtigt. Die Rolle des Vaters ist mindestens so wichtig wie die der Mutter, vor allem für die Söhne, sagen Psychiater und Therapeuten. Auch die Neurobiologie liefert Hinweise darauf, dass ein Junge, der seinen Platz in der Welt finden soll, einen Vater braucht. Der Hirnforscher Gerald Hüther betont, dass es für einen kleinen Jungen unglaublich wichtig sei, einen guten Vater und ein paar andere Männer im Verwandten- und Freundeskreis, die selbst gern Männer sind, zum Vorbild zu haben. Männer, die dem kleinen Jungen vermitteln, dass sie ihn so mögen, wie er ist. Probleme gebe es immer nur bei Jungen, die ohne gute männliche Vorbilder heranwachsen. Jungen bräuchten mehr Halt von außen als Mädchen, hat der Forscher festgestellt. Sie orientierten sich stärker im Raum und suchten nach etwas, das Bedeutsamkeit verschafft. Mädchen dagegen hätten das weniger nötig. Die hätten in sich einen Halt.
Vielleicht aber ist Töchtern der mütterliche Einfluss nur bewusster, und sie können deshalb besser damit umgehen als Söhne mit der Prägung durch den Vater? Wenn Mütter in ihren Töchtern das eigenständige Kind ignorieren, führt die Prägung zu Defiziten. Maja beklagt, dass ihre Mutter ihr keine eigene Meinung zugesteht, sie nicht als eigenes Wesen, sondern als Erweiterung ihres eigenen Ich behandelt. »Wo bleibt da Platz für mich?«, fragte sie uns mehr als einmal. Ständig würde die Mutter ihre Grenzen durchbrechen, eigene Gefühle bei ihr ablegen und sie damit überschwemmen. Auch Majas Mutter ist ein Kriegskind. Durchaus möglich also, dass sie ihre Tochter unbewusst zum »Behälter« für die unerwünschten Anteile ihrer eigenen Person zu machen versucht. Maja aber spürt diese Fremdkörper. Immer, wenn sie Kontakt zu ihrer Mutter hatte, fühlte sie sich schlecht, unverstanden, schuldig.
»Mit allen musste sie sich verkrachen«
Und auch bei Ute und Claudia war es die im Krieg aus Danzig geflohene Mutter, die höchstwahrscheinlich ihre traumatischen Erfahrungen auf ihre Töchter übertrug. Utes und Claudias Mutter sprach nie über ihre Kriegserlebnisse, verdrängte und kapselte schmerzhafte Erinnerungen ab, schwieg. Claudia wiederholt in ihrem Schweigen gewissermaßen dieses Verhalten. Die Mutter gab nach der Trennung vom Vater die achtjährige Claudia zum Vater und schob später auch Ute dorthin ab. Claudia wird zur Einzelkämpferin. Sie akzeptiert die neue Frau des Vaters nicht, sondert sich ab und zieht früh von zu Hause aus. Claudia sei äußerst eigensinnig und stur gewesen, erinnert sich Ute. Sie sprach nach einer Auseinandersetzung ein Jahr lang nicht mit dem Großvater, weil sie seinen Standpunkt nicht akzeptierte.
Claudia habe sich von niemandem etwas sagen lassen wollen. »Mit allen musste sie sich verkrachen, mit den Großeltern, dem Vater, der Stiefmutter, den Tanten und Onkeln, sogar mit ihren Freundinnen gab es nach kurzer Zeit immer Streit«, erzählt Ute. Claudia lernte früh: Das Bestehende ist nicht stabil. Darum wollte sie von anderen unabhängig sein. Auch hier soll aber versucht werden, das Ganze auch aus Claudias Perspektive zu sehen: Kann man ihr verübeln, dass sie von einer Mutter, die sie brutal abgeschoben hatte, nichts mehr wissen wollte? Vielleicht war es eine gesunde Reaktion. Claudia versuchte, sich zu wehren, sicher auch, um ihre Würde zu wahren. Dass das unter den gegebenen Bedingungen auch zu Verzerrungen ihres berechtigten Widerstands führen kann, versteht sich von selbst.
Kurz nachdem Claudia mit 18 Jahren beim Vater ausgezogen war, heiratete sie und bekam ihre Tochter Esther. Sie erlernte verschiedene Berufe, machte eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin, unterrichtete Kinder und arbeitete als Sekretärin bei verschiedenen Firmen. Sie sei ehrgeizig, aber nicht zielstrebig gewesen, so Ute. Auch als Mutter habe sich ihr Ehrgeiz gezeigt; Esther musste gut in der Schule sein. Claudias Tochter sei ein »Musterkind« gewesen, so Ute – bis sie krank wurde. Die Ärzte diagnostizierten einen Gehirntumor. Sie konnten Claudias neunjähriger Tochter
Weitere Kostenlose Bücher