Funkstille
drohe der Verlust der Integrität, wenn in den entscheidenden Momenten des Lebens nicht Nein gesagt werden darf: Nein zu Überforderungen, unangemessenen Ansprüchen anderer und Übergriffen der Eltern. Wer sich nicht abgrenzen dürfe und die Kunst der Abgrenzung verlerne, verliere seine Grenzen.
Wenn die moralisch-seelische Widerstandsfähigkeit eines Menschen nicht stark genug ist, können schwere seelische Verletzungen wie beispielsweise traumatische Kindheitserfahrungen zu neurotischen Reaktionen führen. Das labile Selbstwertgefühl reagiert mit einer Fehlkompensation. Der Widerstand kann dann übertrieben, ja maßlos werden. Pathologisch wird er, wenn er wahnhafte und fanatische Züge annimmt; infantil, wenn er zur sturen Verneinung wird. Ein seelisch gesunder Mensch würde den Widerstand flexibel und durchlässig halten. Wo beginnt also die krankhafte Reaktion auf Verletzungen? Die Grenzen sind sicherlich fließend. Einsamkeit; die Angst, verlassen zu werden; impulsive, zerstörerische Akte; stürmische Beziehungen, die Unfähigkeit zu Nähe und Intimität – diese Gefühle kennen viele Menschen. Leidet ein Mensch jedoch unter einer Persönlichkeitsstörung, befindet er sich nahezu ständig in solch einem intensiven Gefühlszustand.
Viele der Verlassenen, mit denen ich gesprochen habe, fragen sich, ob der Abbrecher auf irgendeine Art seelisch krank sein könnte – die Überlegungen reichen von einer Kommunikations- bis hin zu einer Persönlichkeitsstörung. Immerhin, so meinen die Verlassenen, verhalte er sich ja dissozial, widersprüchlich, unangemessen überheblich, aggressiv, auch selbstzerstörerisch und gleichzeitig hypersensibel. Umgekehrt kann natürlich auch der Verlassene unter einer seelischen Erkrankung leiden, kann schizoide, zwanghafte, neurotische oder depressive Anteile in sich tragen
Was die Verlassenen selbst in den Gesprächen in der Regel gar nicht in Betracht ziehen, ist dennoch überlegenswert. Fest steht: Wenn zwei psychisch instabile Menschen aufeinandertreffen, ist es sicher nicht nur einer, dem ein pathologisches Verhalten zugeschrieben werden darf. In meinen Gesprächen mit Fachleuten aus verschiedenen psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereichen wurde deutlich, dass man nicht pauschal davon ausgehen kann, der Abbrecher und/oder der Verlassene seien psychisch gestört. Hans Wedler differenziert: »Wir tragen ja alle unsere Besonderheiten mit uns. Normalerweise kommen wir mit den Lebensgegebenheiten einigermaßen zurecht. Manchmal aber entstehen Situationen, die uns zu ›unnormal‹ erscheinenden Handlungen zwingen. Der Abbruch kann ja auch eine sehr gesunde Reaktionsweise sein. Unnormal ist dann aber nicht unbedingt der Abbrecher, sondern die entstandene Situation, aus der er wortlos entflieht. Dennoch kann der unvermittelte Beziehungsabbruch sehr wohl Ausdruck unterschiedlicher psychischer Defizite sein, häufig einer Persönlichkeitsstörung mit besonderer Kränkbarkeit oder Handlungsschwäche, manchmal auch einer emotional kalten Persönlichkeit mit schizoiden Zügen oder gar einer Psychose. Letztlich hängt es aber immer von der speziellen Situation ab, in der ein solcher Abbruch geschieht. Man kann nicht generell sagen, der ist eben ›verrückt‹, wenn er so etwas tut.«
Die Situation, aus der der Abbrecher flieht, entsteht in der Regel im Rahmen seiner Beziehung zu einem oder mehreren anderen Menschen. In einer Beziehung agieren zwei oder mehr Menschen, alle jeweils geprägt von ihren Erfahrungen, ihrer Persönlichkeit und deren Eigenarten. Und jeder Einzelne von uns sieht sich einer paradoxen Lebensaufgabe gegenüber, die Fritz Riemann in seinem Buch über die Grundformen der Angst so beschreibt: »Wir sollen sowohl die Selbstbewahrung und Selbstverwirklichung leben als auch die Selbsthingabe und Selbstvergessenheit, sollen zugleich die Angst vor der Ich-Aufgabe wie die Angst vor der Ich-Werdung überwinden.« Dass man darüber leicht ins Schleudern geraten kann, ist eigentlich gar nicht so verwunderlich.
Kontaktabbruch – noch normal oder schon verrückt?
Jans Mutter Isabella M. glaubt, dass ihr Sohn nicht ganz normal ist und sich deshalb auch sein Verhalten nicht schlüssig erklären lässt. Sie erzählt eine Geschichte, die lange her ist, in ihr aber zum ersten Mal den Verdacht weckte, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmen könnte.
Jan sei 14 Jahre alt gewesen und habe sich einen Füller gewünscht. Mutter und Sohn gingen also in ein
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