Funkstille
Schreibwarengeschäft. Der Verkäufer wechselte einige Male die Feder. Es gab eine schmale Feder, die schmal schrieb, und eine breite Feder, die breit schrieb. Jan aber wollte eine schmale Feder, die breit schrieb. Die gab es jedoch nicht, wie der Verkäufer mehrfach erklärte. Schließlich sei die Situation derart eskaliert, dass der Verkäufer Mutter und Sohn aus dem Laden wies und ihnen nachrief, dass sie wiederkommen sollten, wenn sie wüssten, was sie wollten. »Da habe ich gedacht, mein Sohn ist bescheuert. Dieses Kind ist bescheuert. Das ist Jan: Er will einen Füller mit einer spitzen Feder, die aber breit schreibt«, so Isabella M.
Sie ist überzeugt davon, dass sich in seinen Beziehungen zu Frauen dasselbe Grundmuster wiederfindet: Jan wolle ein Mann sein und als Erwachsener ernst genommen werden, verhalte sich aber wie ein Kind, das umsorgt sein will. In seiner ersten Ehe habe seine Frau Lara die Rolle des Mannes übernommen und Jan die der Frau, erzählt Isabella M. Einer der Gründe, aus denen Lara sich von Jan trennte, sei sicher auch gewesen, »dass sie es satt hatte, einen Mann zu haben, der sich immer von Frauen pampern lässt«, vermutet die Mutter. Lara musste berufsbedingt nach München ziehen, Jan aber wollte wegen seiner Psychoanalyse in Frankfurt bleiben. Jahrelang habe seine Frau daraufhin zwei Haushalte finanziert. »Jan nimmt, gibt aber nichts. Nie. Er fordert Unterstützung, hilft aber selbst niemandem. Es gibt nichts in meinem Leben, was er für mich getan hätte. Wenn ich sage, ich brauche etwas, dann hilft er nur, wenn es ihm zufällig in den Kram passt. Er kann eigene Bedürfnisse nicht zurückstellen. Weil ich nie verlangt habe, dass er jobbt, habe ich ihm keinen realistischen Blick auf die Welt gegeben, sagt er heute. Aber wenn er hätte arbeiten wollen, hätte er es doch tun können. Aus eigenem Antrieb hat er sich aber nichts gesucht. Jan ist ein schwieriger Fall«, resümiert Isabella M. Schwierig scheint Jan allemal zu sein, aber gleich »verrückt«? Kann es pathologische Gründe für sein Verhalten geben? Sind Jan, Michael, Claudia, Maja, Rico und die anderen Abbrecher nicht normal?
Das richtige Maß für Nähe und Distanz fehlt – Die schizoide Persönlichkeit
Die Funkstille kann Ausdruck einer seelischen Erkrankung sein, muss es aber nicht, haben wir von Hans Wedler gehört. Manche Einzelheiten in den Geschichten dieses Buches sprechen für bestimmte seelische Beeinträchtigungen bei den Betroffenen. Dennoch sind die diesbezüglichen Überlegungen, die ich gemeinsam mit den von mir befragten Experten angestellt habe, hypothetischer Natur ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Um die Vermutungen zu erhärten, bedürfte es eines viel genaueren fachmännischen Blicks, denn seelische Erkrankungen sind sehr komplex. Dennoch sind sich die Experten im Großen und Ganzen einig: Bei einer Funkstille gibt es im Verhalten des Abbrechers Charakteristika, die häufig bei narzisstischen oder schizoiden Persönlichkeiten auftreten sowie bei bipolaren Störungen, also dem, was alltagssprachlich »manisch-depressiv« genannt wird. Schizoide Persönlichkeiten haben Angst vor der Hingabe. Kommt ihnen ein Mensch zu nahe, stoßen sie ihn schroff von sich weg. Dahinter steckt der Versuch der Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung. Marie, die Freundin meines Kollegen Stephan, könnte solch ein Mensch sein, der das Hingebungsvolle an Beziehungen meidet. Sie lockte Stephan, band ihn eng an sich und entzog sich ihm immer heftiger, je ernster die Beziehung wurde. Ein Satz von Erich Fried beschreibt diese Ambivalenz recht treffend: »Wenn ich bei dir bin, ist vieles voller Abschied und wenn ich ohne dich bin, voller Nähe und Wärme zu dir«.
Marie provozierte Nähe, wollte aber unabhängig, nicht auf Stephan angewiesen sein, weder materiell noch emotional. Wie es scheint, hatte sie Angst, von zu viel Nähe überwältigt zu werden. Aus dieser Angst heraus wird ein Mensch mit einem ausgeprägten schizoiden Persönlichkeitsanteil versuchen, sich gegen starke Gefühle zu immunisieren, um so vermeintlich unverwundbar zu sein. Distanz schützt vor Verletzungen oder Enttäuschungen. Auch anderen Menschen gegenüber öffnete sich Marie nicht, sie nahm nicht wirklich teil am sozialen Leben und achtete peinlich genau darauf, nicht zu viel von sich preiszugeben. Beziehungen zu anderen Menschen versachlichte sie. Ihr ging es um vermeintlich gemeinsame Interessen, nicht um Bindungen. Freunde von Stephan fanden
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