funny girl
flüstert und sich dann aus dem Staub macht, bevor der König ihn erwürgen kann. Und er wird ihn erwürgen. Es war schon immer gefährlich, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen. Die Menschen ertragen die Wahrheit nur in sehr geringen Dosen.«
Arthur – Azime erinnerte sich jetzt an den Namen – hatte noch eine Frage: »Aber du hast gesagt, wir müssen die verborgene Wahrheit in einem Thema aufspüren. Und jetzt überlege ich, was ist mit Lügen? Sind die nicht auch wichtig? Witze über Iren beispielsweise. Alle Iren sind dumm. Jeder liebt Irenwitze, aber wir wissen alle, dass sie scheiße sind. Erstunken und erlogen.«
»Nein, sind sie nicht. Iren sind dumm.«
»Das meinst du nicht im Ernst!«
»Wisst ihr, wer die ganzen Lügen über die Iren verbreitet? Die Iren selbst. Und die Polen erzählen Polenwitze, Juden lachen über Juden, Muslime über Muslime. Niemand macht bessere Witze über diese Leute als sie selbst. Und der Grund, warum Iren irenfeindliche Witze erzählen, ist ihre Unsicherheit, ob an der Vorstellung, dass sie schwer von Begriff sind, nicht doch etwas Wahres dran sein könnte.« Der Kurs ächzte vor Lachen. »Die Witze unterstreichen diese Unsicherheit. Deshalb sind es auch keine Lügen. Und das Gleiche gilt für Frauen am Steuer. Frauen sind insgeheim unsicher, dass sie womöglich ein weniger gutes Raumgefühl haben als Männer, also entspringen Witze über Frauen am Steuer nicht einer Lüge, sondern sind das Ergebnis von Beobachtungen und innerer Unsicherheit. Möchte sonst noch jemand den Betrieb aufhalten?«
Manisch-depressive junge Frau: »Ich. Und was ist mit anderen Gruppen? Was ist, wenn man die beleidigt? Empfindliche Leute. Hat man tatsächlich das Recht, sie zu beleidigen?«
Diesmal brauchte Kirsten einen Augenblick, bis sie die Antwort parat hatte. Sie ging auf der Bühne auf und ab, die Hände tief in den Taschen ihrer Latzhose vergraben.
»Rechtlich gesehen darf man sich über jeden lustig machen, aber man ist nicht dazu verpflichtet … Johnny, ich hoffe, du hörst mir gut zu. Und jeder, über den man sich lustig macht, hat das Recht, beleidigt zu sein. Ihr müsst also einen guten Grund haben, wenn ihr jemanden beleidigt; und ihr müsst glaubwürdig sein und den Mut haben, die Konsequenzen zu tragen. Wenn ihr aus eigenem Erleben schöpft, ist eure Wut authentisch – wenn ein Thema euch wirklich an die Nieren geht, seid ihr glaubwürdig. Aber wenn ihr nur einfach aus sicherer Entfernung feuert, Schüsse über ein Thema, bei dem ihr euch gar nicht auskennt, dann seid ihr wohl nicht die richtigen, über dieses bestimmte Thema etwas zu sagen. Kurz gesagt: Missbraucht nicht euer Recht auf Redefreiheit, dazu ist es zu hart erkämpft. Wählt eure Zielscheibe sorgfältig aus. Attackiert die Bösen. Ne tirez pas sur l’ambulance – schießt nicht auf den Krankenwagen. Wir brauchen alle Guten, die wir finden können. Aber habt keine Angst davor, die Wahrheit zu sagen, ganz gleich, wohin sie euch führt.« Bei dieser Bemerkung klatschte sogar Johnny TKO beifällig, was wiederum Kirsten noch mehr anspornte. »Wenn ein Krankenwagen eure Großmutter überfahren hat, dann jagt den Krankenwagen mit der Panzerfaust in die Luft. Und eins muss euch klar sein: Die Wahrheit verletzt immer – deshalb müsst ihr sicher sein, dass sie die Richtigen trifft. Und jetzt haut ab. Ihr seid furchtbar.« In das Gelächter hinein fügte sie noch hinzu: »Das ist mein Ernst. Ihr habt alle kein Talent, keiner von euch. – Hört auf zu lachen, ich meine das ernst. Kein Talent, niemand. Und jetzt verschwindet wieder in euer armseliges kleines Leben und hört auf, mir Löcher in den Bauch zu fragen.«
Die Kursteilnehmer zogen ab, glücklich, dass sie, wo sie schon kein Talent besaßen, immerhin eine Lehrerin hatten, die alles, was womöglich doch in ihnen schlummerte, herauskitzeln konnte.
Azime blieb sitzen.
Als sie sie sah, kam Kirsten zu ihr herüber, streckte ihr die rechte Hand entgegen, die sie während der gesamten Unterrichtsstunde in ihrer Hosentasche verborgen hatte.
»Hallo. Ich bin Kirsten. Warst du nicht schon letzte Woche da?«
Azime schwebte auf einer Wolke von Optimismus und mit dem Gefühl ungeahnter Möglichkeiten nach Hause. Die Straßen kamen ihr plötzlich gar nicht mehr so schmutzig vor, die Menschen heiterer, weniger unzugänglich. In ihrer beflügelten Stimmung wollte sie sehen, einfach nur sehen, aufrichtig in das Herz der Dinge blicken, genau wie Kirsten es gesagt hatte, wollte
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