funny girl
nah herangehen, wahrnehmen, durchschauen, einen Blick werfen auf diesen kleinen Teil, der immer unerforscht bleibt. Sie lächelte wildfremden Passanten zu und erntete jedes Mal ein Lächeln, das sie schmunzelnd weitergehen ließ. War die Welt tatsächlich nur das, was man in sie hineinlas?
Sie passierte die Seitenstraßen von Harringay, die sich wie neunzehn Leitersprossen zwischen Green Lanes und Wightman Road hinzogen . Was waren das für bis dahin unbemerkte Dinge, die Azime Gevaş sehen konnte, als sie die Umfreville Road, die Burgoyne Road, die Cavendish, Duckett, Mattison, Pemberton, Wareham, Seymour, Hewitt, Allison, Beresford, Effingham, Fairfax, Falkland, Frobisher, Lausanne, Hampden, Raleigh, Sydney sowie die North Lothair Road und die South Lothair Road überquerte? Menschen vor allen Dingen. Dahinhastende Vertreter der örtlichen Kulturen, so viele Ethnien, dass man sie unmöglich alle aufzählen konnte, und sie alle versuchten sich in dieser erbarmungslosen Ecke der Großstadt durchzuschlagen. In der Eiszeit war hier ein Gletscher gewesen, direkt unter diesem Asphalt; aus dem Erdkundeunterricht wusste sie, dass sich das Eis bis zum Muswell Hill erstreckt hatte. Später dann ein Wald, bis ins Mittelalter. Dann kam die Landwirtschaft, kamen Hecken, Gärten und schließlich diese Menschen, die sich nicht unterkriegen ließen. Heute herrschte auf der Straße gute Stimmung, ein Zeichen des Zusammengehörigkeitsgefühls, das dafür sorgte, dass in diesem Stadtteil der Sommer eine riesige Freiluftparty war, mit den traditionell gekleideten Anwohnern auf den Straßen, wo sie in einer der 193 Sprachen des Viertels redeten und sangen und auf 193 verschiedene Arten zubereitetes Hühnchen aßen.
Das Straßenmuster hatte in der Zeit von König Edward ein trübsinniger Stadtplaner auf dem Reißbrett entworfen, und nur die leuchtend bunten Eingangstüren sorgten dafür, dass sich die immergleichen Reihenhäuser nicht gar zu ähnlich sahen. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wechselten die Häuser die Besitzer, an die Stelle der englischen Arbeiterklasse traten Einwanderer, und die Haustüren kündeten heute von ihren fernen Heimatländern: das Terrakotta der Wüste, das Gelb von Safranreis, das Marineblau eines unvergessenen fernen Binnenmeers. Viele Fenster in den oberen Stockwerken standen offen, ließen Luft herein und verströmten aromatische Essensdüfte, von Köchen und Köchinnen produziert, die keine Kochbücher brauchten.
An diesem lauen Abend waren die Menschen mit dem Frühjahrsputz beschäftigt, kehrten die Eschenblätter von den Gehwegen. Azime blieb stehen und hob ein Blatt auf, so breit wie ihre Hand –kein Wunder, dass diese Bäume ein Geräusch wie Applaus machten, wenn der Wind durch die Blätter fuhr. Im Weitergehen sah sie Leute, die ihre Teppiche klopften, und das Gewebe hustete bei jedem Schlag Wolken von uraltem Staub. Sie kam an kurdischen und türkischen Bäckereien vorbei. Geschlossen. Aber die Gemüseläden waren noch offen und präsentierten ihre Ware in Plastikkisten, Material für hundert Stillleben. Sie war hungrig und kaufte sich einen Lamm-Döner. Der Duft von dem kreisenden Grillspieß stieg ihr in die Nase. Der Verkäufer säbelte das Fleisch mit einem langen Messer ab und fing die Stückchen mit einem sichelförmigen Tablett auf, ehe er sie zusammen mit Essiggurken und Zwiebelringen in eine Pita schob und einen ordentlichen Schuss Chilisauce dazugab. Schreckliche Vorstellung, dass ein Lebewesen umgebracht werden musste, damit sie zu essen hatte; aber was konnte man schon machen, solange die Tiere sich nicht selbst umbrachten?
Wieder auf der Straße, aß sie im Gehen. Im Schaufenster einer Fußpflegerin stand ein Aquarium, in dem Saugbarben bedrohlich ihre Bahnen zogen. Diese Fleischfresser mochten rauhe, abgestorbene menschliche Haut und knabberten – angeblich – ausschließlich die Schwielen an menschlichen Füßen ab. Aber Azime machten Fische Angst, und sie fand, nur ein Dummkopf würde darauf vertrauen, dass diese einfältigen Biester wussten, wann sie mit Fressen aufhören sollten. Sie wandte sich von dem Schaufenster des Kosmetiksalons ab und sah den Vater des toten Mädchens.
Sie fuhr zusammen. Ihr stockte der Atem. Der Mann, dieser Mörder, war für den Moscheebesuch gekleidet und unterhielt sich mit einem anderen Mann. Er gestikulierte heftig, und seine Schultern bewegten sich auf und ab, schließlich verzog er das Gesicht zu einem Grinsen –
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